Hans Rauscher hegt bekanntlich eine große Sympathie für die USA - die ich mit ihm teile. Allerdings läßt sich freies Denken nicht vernünftig darauf aufbauen, daß einem etwas sympathisch ist und etwas anderes eben nicht. Im Grunde haben wir hier, im Widerspruch zwischen Sympathie und Denken, den Konflikt, der eine Diskussion mit Rauscher ermöglicht und interessant macht. Denn worüber sollten wir sonst diskutieren, wenn ich bekennen muß, daß ich Hans Rauscher in seinem Kommentar über "Die amerikanische Führungsrolle" in jedem Punkt vom Herzen zustimme, obwohl er diesen Kommentar mit dem Gestus schrieb, mir Punkt für Punkt zu widersprechen. Alles, was er anführt, um seine Sympathie zu begründen, ist nicht nur richtig, es ist weitgehend common sense – in der westlichen Welt. Mit anderen Worten: Rauscher Kommentar bestätigt am Ende einmal mehr, was schon a priori unsere Ansicht war. Nun gibt es allerdings sehr viele Ansichten, und unsere Ansichten sind nur in unserem ureigenen Blickfeld sehr gut begründet: Wir wurden (auch) von den USA vom NS-Terrorregime befreit, uns wurde von den USA beim Aufbau eines demokratischen Staates geholfen, wir haben die USA als Leitbild anerkannt - und unsere Freiheit und unser Wohlstand sind heute eindeutig größer als je zuvor und als in anderen Teilen der Welt. Wenn man nun aber diese Kausalkette anzweifelt, daß jene, die die USA als Schutz- und Führermacht anerkennen, in der Folge mit größerer Freiheit und größerem Wohlstand belohnt werden - und es sind statistisch gesehen "bloß" 121 Länder, deren Geschichte das genaue Gegenteil zeigt - kann das einen Mann wie Hans Rauscher und unsere gemeinsame Sympathie für die USA erschüttern? Rauscher nicht. Und das ist der Moment, an dem jedes denkende Gemüt von begründeter Sympathie zu reflexiver Skepsis gelangt. Eine Ansicht hat eben noch nicht unbedingt erkannt, was sie sieht, auch dann nicht, wenn sie in allem, was sie sieht, zweifellos richtig sieht. Hier zeigt sich, oder läßt sich zeigen: Hans Rauscher hat in zwar in jedem Punkt Recht, aber er irrt in einem nur für ihn offenbar unwesentlichen Aspekt: nämlich im Ganzen. Wie sehr Hans Rauscher zu Gunsten faktisch richtiger Details am Grundsätzlichen desinteressiert ist, schickt er in seinem Kommentar gleich voraus: Die USA, schreibt er, beanspruchen die Führungsrolle in der Welt, und er könne nicht verstehen, daß ich, wenn ich den Führungsanspruch der USA in Frage stelle, dies "wirklich ernst" meine. Ihm genügt die Faktizität als Argument, während die grundsätzliche Fragwürdigkeit des Sachverhalts ihm völlig unerheblich erscheint. "Die Überlegenheit der USA", schreibt Rauscher, "gründet sich natürlich auch auf militärischer Stärke, aber die ist eine Folge der wirtschaftlich-technologischen Stärke, und die wiederum gründet sich auf die Überlegenheit einer offenen demokratischen Gesellschaft gegenüber geschlossenen Systemen". Alleine in diesem Satz haben wir den Konflikt zwischen Sympathie, die zustimmen will, und einem Denken, das bei aller Sympathie bloß einmal zu hinterfragen versucht, in vorbildlicher Weise verdichtet: Wenn Rauscher also schreibt, daß sich die Überlegenheit der USA "auch" ihrer wirtschaftlichen Stärke verdankt, diese wiederum der Überlegenheit ihres Systems entspringt, dann will man nach diesem "auch" natürlich wissen, worauf sie sich noch begründet. Wirtschaftliche Kraft und Systemüberlegenheit selbst können es ja nicht sein, sind sie doch nur die Prämissen der einen Begründung, die Rauscher mit "auch" einleitet. Rauscher weiß also noch andere Gründe für den Führungsanspruch der USA – die er aber dann nicht sagt. Ich habe lange darüber nachgedacht, aber mir sind keine weiteren guten Gründe eingefallen, die die "amerikanische Führungsrolle" vernünftig untermauern könnten. Wenn wir also keine anderen Gründe finden oder erfahren, dann können wir in Rauschers Satz das Wörtchen "auch" mit einiger Legitimität wohl durch das Wörtchen "ausschließlich" ersetzen. Sein Satz schaut nun so aus: "Die Überlegenheit der USA gründet sich natürlich ausschließlich auf militärischer Stärke..." – und das habe ja auch ich geschrieben. Es ist wahrlich nicht leicht, Rauscher zu widersprechen. Er leitet die militärische Stärke der USA von ihrer wirtschaftlichen Stärke ab, diese wiederum von der Überlegenheit des Gesellschaftssystems. Das sehe ich auch so. Hier hat Rauscher eine Kausalkette geschmiedet, die in sich stimmig ist - allerdings just dies nicht begründet, was er legitimieren wollte: nämlich den Führungsanspruch der USA. Offene Gesellschaften können großen wirtschaftlichen Reichtum produzieren, das ist richtig, aber: wenn dies allein einen Führungsanspruch begründen würde, dann müßten viele Nationen, die frei sind und wirtschaftlich stark, diesen Anspruch stellen. Das gebietet Rauschers Logik. Tatsächlich ist dafür aber eine politische Entscheidung Voraussetzung, die nur die USA innerhalb der freien Welt so radikal getroffen haben: nämlich einen so großen Teil des erwirtschafteten Reichtums in die Aufrüstung zu stecken, daß dieser Anspruch auf Führung auch jederzeit ausgefochten werden kann. Ein freier, wirtschaftlich prosperierender Staat, der die Entscheidung getroffen hat, etwas weniger in die Rüstung, dafür mehr in eine etwas gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu investieren, kann zwar nicht mehr die "Führungsrolle" beanspruchen und durchsetzen, er ist lediglich "vorbildlicher" in Hinblick auf die Menschenrechte und die Ideale, auf die die freie Welt sich ideologisch geeinigt hat. Im Grunde hat Rauscher mit seinem bemerkenswert vielschichtigen, oben zitierten Satz auch dies geschrieben: Der Führungsanspruch der USA leitet sich nicht davon ab, daß die USA eine exklusive Vorbildfunktion in der Welt für sich beanspruchen können. Das ist für einen Mann mit solch bedingungsloser Sympathie für die USA eine bemerkenswerte Feststellung. Und auch hier hat Rauscher Recht. Denn gerade wenn wir von der freien Welt reden, ist die Tatsache, daß eine Nation den Führungsanspruch stellt und durchsetzt, eine eigentümliche Aporie. Denn die Freiheit der freien Welt begründet sich wesentlich darauf, Ihre "Führung" und ihre Repräsentanten selbst wählen und auch wieder abwählen zu können. Auch dies muß man Rauscher zu Gute halten: er hat in seinem Kommentar gar nicht erst behauptet, daß diese, in freien System unabdingbare Möglichkeit im Falle unseres Verhältnisses zu den USA gegeben ist. Wenn man den Sachverhalt für wahr erachtet, daß es eine (einigermaßen) "freie Welt" gibt, deren Freiheit sich der Tatsache verdankt, daß sie sich auf bestimmte Freiheitsgrundsätze geeinigt hat, dann kann man nicht im nächsten Atemzug jene Freiheit, die eine Nation sich alleine herausnimmt, zum Parameter der Freiheit aller machen. Ist nicht vielmehr alles, worauf die freie Welt sich einigt, dem anders gearteten Interesse einer einzelnen Nation überlegen? Und doch ist die freie Welt deutlich der Freiheit einer einzelnen Nation in jenem Punkt unterlegen, den Hans Rauscher anführt: in der militärischen Stärke. Aber, nocheinmal, ist diese wirklich ein triftiges, ein zumindest sympathisches Argument dafür, daß die "Führungsmacht" aufkündigt oder ausschlägt, was im Interesse der freien Welt liegt? Vom Klimaabkommen bis zu der Teilnahme am UNICEF-Projekt, die Menschenrechte auch für Kinder durchzusetzen? Und ist mit den Erfahrungen, die wir in Europa vor einem halben Jahrhundert mit den USA gemacht haben, alles auf ewig legitimiert, was im Namen der Interessen der USA seither auf der Welt geschah? Ist ausgerechnet in Hinblick auf die USA plötzlich Dankbarkeit eine politische Kategorie, ist "ewige Legitimation" überhaupt ein demokratischer Wert? Warum nennt Rauscher den US-Putsch gegen Allende in Chile eine "Entartung", um mit großem ABER sofort anzufügen, daß die US-amerikanische Politik dennoch grundsätzlich davon bestimmt war, "die Welt für die Demokratie sicher zu machen". Diese Form der Differenzierung ist zwar nachvollziehbar und vieles spräche dafür, zunächst einmal zu nicken. Aber zugleich ist diese Differenzierung höchst gefährlich, und zwar just im Licht der Ideale, die ich mit Hans Rauscher grundsätzlich teile: denn sie funktioniert nie so gnädig, wenn die Sympathie nicht zur Prämisse der Differenzierung gemacht wird. Hat nicht jeder, der das Sowjet-Experiment voller Hoffnung auf die Befreiung der Menschheit und den Weltfrieden unterstützte, selbst nach Ungarn 1956 und CSSR 1968 allen Grund zu sagen: Der Anspruch aber war gut? Glaubt nicht jeder, der mit NS-Gedankengut sozialisiert wurde, heute noch, daß die Grundidee attraktiv war, aber leider gab es "Entartungen"? Ist nicht für jeden, der als Christ erzogen wurde, alles, was von den Kreuzzügen über die Inquisition, die Segnungen der Nazi-Waffen bis zu Kinderschändungen durch eine im Zölibat völlig verwirrte Priesterschaft geschah und geschieht, unerheblich im Vergleich zu der messianistischen Frohbotschaft? Sie alle sympathisieren und – irren, solange sie Verbrechen entschuldigen. Und wir, je nach unseren Interessen, sehen ihnen den jeweiligen Irrtum nach, oder bekämpfen sie und ihre Ideolgien. Wann sticht der Anspruch die Praxis, wann die Praxis den Anspruch? Ich teile, wie gesagt, die Sympathien und Präferenzen Rauschers, aber für eine produktive Diskussion sollte man sie nicht zur alleinigen Prämisse machen, wenn man intellektuell nicht in Teufels Küche kommen will. Für mich und meine Generation waren der Putsch in Chile und der Vietnam-Krieg zunächst – ich betone: zunächst – das Ende des moralischen – ich betone: moralischen – Führungsanspruchs der USA. Bei aller Dankbarkeit für die Befreiung und Demokratisierung jenes Weltteils durch die USA, in den ich schließlich hineingeboren wurde. Ich habe Glück gehabt. Aber dieses Glück ist umfassender, als es Hans Rauscher sehen kann: Denn unser Glück ist nicht bloß, daß die USA uns gerettet haben, sondern, daß ihre Willkür und ihre geopolitischen Interessen in unserem Fall sich besonders glücklich fügten. Exakt in der Zeit, als sie uns beim demokratischen Wiederaufbau unterstützten, administrierten sie ungerührt Massenexekution in Korea, an Menschen, die eigentümlicherweise geglaubt haben, daß nach der Befreiung von Fremdherrschaft und Terror nun der Moment gekommen sei, Demokratie wagen zu können. Heute findet die Fußballweltmeisterschaft in Korea auf plan gemachten Massengräbern statt, wo Menschen verscharrt sind, die mit den Interessen der USA nicht so großes Glück gehabt haben, wie wir. Wie kann man im Glück unseres Glücks dies einfach mit einem "Pech gehabt!" abtun? Chile war ein souveräner Staat, der die Ideale der freien Welt erfüllt und frei gewählt hat. Wie kann man die Ermordung des frei gewählten Präsidenten und die Installierung einer Militärdiktatur in Chile (nach Rauscher: eines "geschlossenenen", also "unterlegenen Systems) als läßliche "Entartung" bezeichnen, die durch ein gänzlich anders geartetes "Wesen" widerlegt ist? Selbst wenn man nach einer intensiven Denkanstrengung zu Rauschers Befund kommt – wo ist die Denkanstrengung? Wir haben Glück gehabt – na fein. Andere haben weniger Glück gehabt, obwohl der selbe Apparat dafür verantwortlich war. Ist es wirklich das, was wir unter Freiheit verstehen: das politische Las-Vegas-Prinzip? Hans Rauscher schreibt: "Eine Führungsrolle ohne militärische Macht gibt es nicht". Auch hier hat er Recht. Die Differenz ergibt sich erst dadurch, daß er die Implikationen dieses an sich richtigen Satzes nicht reflektiert: Wie sinnvoll ist eine Führungsmacht, noch dazu, wenn sie nur auf militärischer Macht begründet werden kann? Und ist eine militärische Macht, die martialisch Glück und Unglück aus ihrem Füllhorn auf die Welt kippt, wirklich das Ideal, dem die Welt mit ihren mittlerweile viel avancierteren Idealen, Ansprüchen, Bedürfnissen und Erkenntnissen bedingungslos folgen muß? Ohne Gewähr bei Fuß? Wir erleben heute in Europa eine nachnationale Entwicklung, die dort, wo Nationalismus aufflammt, diesen sofort skandalisiert. Es gibt keinen Grund, unter dieser Voraussetzung den Nationalismus einer Nation als Führungseigenschaft weihrauchschwenkend zu umschwänzeln. Freiheit, Menschenrechte und Rechtszustand sind unteilbar. Europa ist frei. Europa ist demokratisch. Europa ist wirtschaftlich reich. Europa investiert viel mehr in soziale Gerechtigkeit, als die USA. Europa ist heute der einzige selbstkritische Kontinent der Welt: Wer die Welt ausschließlich nach den Interessen Europas beurteilt, wird augenblicklich des Eurozentrismus geziehen. Amerikazentrismus als kritische Kategorie gibt es nicht. Aus all diesen Gründen wäre ein Ende der Demutsgesten Europas gegenüber den USA angesagt, bei aller Dankbarkeit und Sympathie. Und wenn wir erleben sollten, daß einmal Henry Kissinger (nur zum Beispiel) neben Milosevic vor dem europäischen Gerichtshof in Den Haag steht, dann wollen wir Sympathisanten des american way of life (Rauscher und ich im Chor) emphatisch ausrufen: Ja, Amerika, das ist ein vorbildlicher – Partner! (DER STANDARD, Printausgabe, 3.6.2002)