Man fragt sich unwillkürlich, wer oder was den Autor geritten hat, dieses Buch zu veröffentlichen, und es beschleicht einen das unangenehme Gefühl, diese Frage in erster Linie mit dem Wort "Eitelkeit" beantworten zu müssen. Und mehr als ernüchternd ist der Umstand, dass zahlreiche der hier abgedruckten Texte schon vor Jahren oder Jahrzehnten geschrieben (und zum weit überwiegenden Teil) auch bereits erschienen sind. Will heißen: dieser Zug ist nicht neu (mit allen daraus folgenden Konsequenzen für den Autor und seine Rezipienten). Am Beispiel eines bisher unveröffentlichten Textes über Siegfried Giedions in jeder Weise große Untersuchung "Die Herrschaft der Mechanisierung" (Weder Enzensberger noch der Verlag halten es übrigens der Mühe wert anzugeben, wann "Unheimliche Fortschritte. Über S. G.s Werk 'Die Herrschaft'" etc. geschrieben wurde; mit größter Sicherheit nicht zum Erscheinen des englischsprachigen Originals 1948, aber ob zur deutschsprachigen ersten Auflage 1982 oder zur zweiten 1994, muss ebenfalls offen bleiben.): Zwar lobt Enzensberger die Forschungsleistungen des gebürtigen Schweizer Architekturtheoretikers und -kritikers der Bauhauszeit. Zunächst fast über den grünen Klee. Aber dann: "Dass er seinen eigenen Einsichten philosophisch nicht ganz gewachsen war, mögen ihm andere vorwerfen. Zugegeben, wenn er fordert, die 'Kluft zwischen Denken und Fühlen' müsse endlich überwunden werden, so wirkt dieser Appell hilflos und naiv (...)." Das ist viel schlimmer als philosophische Beckmesserei, das ist herablassende schulmeisterliche Arroganz; so im Sinne von: "Braver Suchhund! Aber was du da aufgestöbert hast, damit weißt du nicht umzugehen. Also gib her ..." Was allerdings Giedion versucht, trifft sich rein äußerlich (in Wahrheit leider nicht einmal intentional) mit den Absichten von Enzensbergers Die Elixiere der Wissenschaft, nämlich den im allgemeinen Bewusstsein sträflich unterbelichteten und unterentwickelten Zusammenhang von Naturwissenschaften und (insbesondere) Mathematik kritisch, das heißt in seinen Konsequenzen, zu beleuchten. Und das, was gerade Giedions Buch in diesem Punkt leistet, bleibt Enzensberger in jeder Weise schuldig, obwohl er im ersten der hier abgedruckten Essays "Zugbrücke außer Betrieb oder Die Mathematik im Jenseits der Kultur" genau auf dieses Missverhältnis programmatisch rekurriert. "Woher kommt es, dass die Mathematik in unserer Zivilisation so etwas wie ein blinder Fleck geblieben ist, ein exterritoriales Gebiet, in dem sich nur wenige Eingeweihte verschanzt haben?" Enzensberger will aber offenbar die kleine Chance nicht nützen, mit dem Gewicht seiner Reputation diesen blinden Fleck auch nur mit gröbsten Koordinaten auf unserem inneren Bildschirm einzutragen. Man müsste erklären, was sich wie verhält; in einfachen Worten und auch um den Preis, dass die Plastizität von Worten und Vergleichen nur Weichbilder der präzisen Formeln, Strukturen und Systeme herbeischreibt. Diese Niederungen scheut er. Doch er kommt uns auch nicht kompliziert wie Henning Genz etwa (das ist zwar Lesearbeit, aber äußerst gewinnbringende), nein, er kommt hochtrabend daher. Mit Nennungen. Da werden die "beiden Unvollständigkeitssätze Gödels" genannt, das "Klassenzahl-Problem", "eines der schwierigsten Rätsel der Zahlentheorie", das "Klassifikationstheorem", die Gruppentheorie. Nein, keine Erläuterungen, nicht einmal der Versuch eines Hinweises, sondern so weiter ... Zwischen den Texten eingestreut poetische Porträts aus den Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts, im Telegramm- oder Stakkato-Stil, hübsch, gelehrt, nicht sonderlich informativ, nicht selten die Personen über ihre menschlichen Schwächen näher bringend. Oder: über den Cern bei Genf, "Die unterirdische Kathedrale"; Teilchenbeschleuniger, unser nebbich Wissen darüber, was da wirklich passiert, ist danach nur um ein paar aufgesetzte Glanzlichter reicher. Aber immer noch nebbich! Auf Seite 160 hat der Rezensent die Wort-für-Wort-Lektüre abgebrochen; gelinde gesagt verärgert. Katzengold. Schade. (Viel versprechend liegt der neue Henning Genz daneben, Wie die Naturgesetze Wirklichkeit schaffen. Über Physik und Realität, erst angefangen; mühsam, spannend, aufregend.) Denn fühlen wir uns - wie ehedem - von der Lektüre Enzensbergers bereichert? Nicht die Spur. Wir sind nur gehalten, den Kenntnisreichtum eines Autors zu "bewundern", der sich zugleich als dilettierender Laie bezeichnet. "Fishing for compliments"? Und die LeserInnen lässt man dumm sterben. In der Dichtheit einer essayistisch brillierender Sprache geht selbst unter, ob Enzensberger tatsächlich versteht, wovon er schreibt. Namen und Begrifflichkeit lassen sich auch in jedem besseren Lexikon nachschlagen; zumeist sogar mit größerem Gewinn. Nichts ist misslicher, als unnötige Enttäuschungen es sein können. (DER STANDARD-ALBUM, Print-Ausgabe, 1. 6. 2002)