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Marseille, im Vichy-Frankreich. Der einzige Hafen, in dem noch französische Fahnen wehen. Hier treffen sich die von Hitler Vertriebenen des ganzen Kontinents, der Prager Kapellmeister, der Dortmunder Arzt, der zum Flüchtling gewordene Kämpfer aus dem Spanischen Bürgerkrieg, Juden, Kommunisten, selbst solche, die durch Zufall Gegner der neuen Herren Europas wurden. Hier warten sie, bei billigem Roséwein und Pizza, auf das Visum für Länder, deren Existenz sie manchmal erst durch den Atlas bestätigt finden. Von den unter deutschem Druck stehenden französischen Behörden kaum geduldet, geht es um die schier unmögliche Koordinierung von Terminen und Geld für Schiffskarten, Einreise- und Ausreiseerlaubnis, Gesundheitszeugnissen und - vor allem - Transitvisa. Dieser Zustand des Dazwischen wird in Anna Seghers' Roman zur Metapher für ihre Zeit: was "man auf Konsulaten Transit nennt und in der gewöhnlichen Sprache Gegenwart". Die verwirrende Vielfalt der Figuren, die in verrauchten Cafés, wo ihre kaum verfolgbaren individuellen Schicksale sich in quälenden Déjà-vus dennoch immer wieder überkreuzen, über bürokratische Orgien berichten, beweisen die Gültigkeit modernistischer Erzählmodelle für die Darstellung des europäischen Nomadentums in der Mitte des vorigen Jahrhunderts: kafkaeskes Schreiben als Realismus. Gleichzeitig steht diese historische Spezifik in einer mythisch anmutenden Tradition, die der Icherzähler, ein wenig politischer, einsamer, daher aber umso aufnahmefähigerer junger Flüchtling, immer wieder beschwört: Das ethnische Durcheinander in Marseille ist für ihn "uraltes frisches Hafengeschwätz, phönizisches und griechisches, kretisches und jüdisches, etruskisches und römisches". Die Einsicht in die historische und existenzielle Unvermeidlichkeit von Transit bringt ihn auch dazu, seine Flucht gar nicht erst zu realisieren, sein Ticket mitsamt den mühsam ergatterten Visen und Stempeln zurückzugeben und in Frankreich unterzutauchen. Glück für ihn, denn das Schiff sinkt auf der Überfahrt. Der Aufbau-Verlag, bereits in der DDR der Verlag der Grande Dame der Exilliteratur, begann zu Anna Seghers' hundertstem Geburtstag im Jahr 2000 das gigantische Projekt einer 24-bändigen Werkausgabe, die von einem deutsch-amerikanischen Herausgeberteam geleistet wird. Transit, aufgrund der fehlenden aktivistischen Dimension von der Autorin als ihr "armes Buch", von Böll allerdings als "Roman, der Saga, Epos und Mythos zugehörig ist" bezeichnet, ist nach dem Welterfolg Das siebte Kreuz der zweite Band der Edition. Der großartige Kommentar und besonders die Analyse der vielfältigen Rezeption durch die bekannte Berliner Germanistin Silvia Schlenstedt machen historische Kontexte als verwirrende Paralleltexte zu einem Roman greifbar, der immer mehr zum heimlichen Hauptwerk der Autorin wird. Diese Komplexität trifft auch auf die editorische Arbeit selbst zu: Angesichts des Fehlens eines Typoskripts basiert diese Ausgabe auf der ersten deutschsprachigen Publikation als Fortsetzungsroman in der Berliner Zeitung (1947) und wurde mit den bereits 1944 erschienenen englisch- und spanischsprachigen Übersetzungen verglichen - Textgeschichte als Ausdruck der Verwirrungen einer Exilbiographie. Vor dem Hintergrund der neuen Flüchtlingsströme und der Errichtung der "Festung Europa", an der nun auch schon bald einige einst draußen Gebliebene mitbauen dürfen, gewinnt der Text bestürzende Aktualität. Die Stadt Marseille, "seit tausend Jahren war sie die letzte Bleibe für unsereins, die letzte Herberge dieses Erbteils", mit dem "ersten Schimmer der afrikanischen Welt auf ihren weißen, dem Süden zugerichteten Mauern". Wie töricht, solche historischen Kontinuitäten negieren zu wollen! (Von Walter Grünzweig - Album, 1.06.2002)