Der Nordbahnhof war ein Prachtbau der Ringstraßen-Ära, eröffnet 1865, im selben Jahr wie die Ringstraße. 1945 endete nach der Sprengung der Donaubrücken durch deutsche Truppen der Eisenbahnbetrieb. - Das Abfahrtsgebäude an der Nordbahnstraße hat den Zweiten Weltkrieg strukturell intakt überstanden. Eine Instandsetzung und Nutzung z. B. für Ministerien oder Universitäten wäre möglich gewesen. - Der Abriß 1965 (nach 100 Jahren) löste keine Proteste aus, zumindest keine öffentlichen Kontroversen. Gleichzeitig kam es in Wien zum Abbruch der großen Rothschild-Bauten: die Palais von Nathaniel und von Albert Rothschild im 4. Bezirk, der Nordbahnhof, das Rothschildspital am Währinger Gürtel. (Rothschilds waren die Erbauer des Bahnhofs und Betreiber der Bahn, der ersten Lokomotivlinie in Österreich.) - Mit dem Abbruch wurde eine architektonisch/baulich/ eisenbahntechnische Verknüpfung Wiens mit dem heutigen Tschechien und Polen ausgelöscht. Es handelte sich um den stillen, unreflektierten (zumindest nicht debattierten) Abbruch einer historischen Beziehung. Die vollständige Zerstörung des Nordbahnhofs bedeutet den Verlust eines historischen Fundaments, eines Orientierungspunkts, eines symbolhaften Ortes für den tschechischen, polnischen und jüdischen Anteil an der Wiener Geschichte. Georg Rigele ist Historiker, Unternehmensarchivar
und Ausstellungskurator in Wien.
(DER STANDARD, Album, Sa./So., 1.06.2002)