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Kultur ist seit der Mitte der 90er-Jahre auch hierzulande - in den Humanwissenschaften, wie im gesellschaftlichen Leben - zu einem bestimmenden Schlüsselbegriff geworden, der das Ganze unseres Lebens zu umfassen scheint, wie es Raymond Williams, einer der zentralen Theoretiker der britischen Cultural Studies, im Anschluss an T. S. Eliot formuliert hat. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Die Mediatisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, die zunehmende Künstlichkeit unserer Lebensverhältnisse, die technischen Fantasien, die mit Computer- und Biotechnologien einhergehen, die Individualisierung unserer Lebensvollzüge, die uns als deren Konstrukteure erscheinen lassen, sowie die "Globalisierung" und die auslösenden kulturellen Gegenbewegungen umschließen Erfahrungen, die die Botschaft, dass wir in einer Welt symbolischer (Selbst)- konstruktionen leben, in der es nichts anderes zu geben scheint als eben Kultur, plausibel erscheinen lassen. Der radikale Wandel der Kultur ist es, der das Augenmerk auf ebendiese lenkt. Es wird zur Herausforderung für die Human-und Kulturwissenschaften, diese kulturellen Veränderungen zu begreifen, um die neue Kultur, in die wir eingetreten sind, lesbar zu machen. Dass die Erfahrung radikaler Verschiebungen im kulturellen Gesamtgefüge so neu nicht ist wie es auf den ersten Blick anmuten mag, zeigen die Aufsätze von Stuart Hall aus den Jahren 1989-1996. Hall, Brite jamaikanischer Herkunft und einer der führenden Köpfe der Cultural Ctudies, benennt in seinem Aufsatz Das theoretische Vermächtnis der Cultural Studies noch einmal jene einschneidenden kulturelle Störerfahrungen, die zum Cultural Turn in den Humanwissenschaften geführt haben: die Entstehung einer populären und mitunter prekären Massenkultur, das Unbehagen der Geschlechter, die neuen ethnischen Minderheiten in den westlichen Kulturen. Mit diesen Veränderungen verschiebt sich die Bedeutung von Kultur: Im Gefolge des kulturellen Wandels erweitert sich der Machtbegriff, wird das Private, Geschlecht und "das gefährliche Geländer der Subjektivität", zum Politischen, öffnen sich die geschlossenen Grenzen zwischen Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften, wie Hall am Beispiel der Psychoanalyse ausführt. "Kultur" liefert den Schlüssel, der die bislang verschlossenen Tore öffnet. Der renommierte englische Literaturtheoretiker Terry Eagleton, warnt indes davor, den Begriff Kultur derart auszuweiten, dass am Ende nur mehr "Kultur" übrig bleibt. Er wendet sich gleichermaßen gegen einen romantischen Kulturalismus wie gegen eine poststrukturalistische Esoterik, die Kultur und Geschlecht zu Text, Diskurs oder Performanz erklärt, womit ebenjene Dimension ausgeschlossen wird, die gerade den britischen Cultural Studies stets ein Anliegen gewesen ist: Macht und Herrschaft. Eagleton verweist auf die etymologische Bedeutung des Wortes von Kultur, das ursprünglich mit dem Ackerbau, der Kultivierung verbunden war: Natur war stets als das gedacht, was "Kultur" vorausging und mit dem sich diese auseinander setzte - das gilt für die menschliche wie die außermenschliche Natur. Der konsequente Konstruktivismus unserer Tage scheint aber gerade diese Voraussetzung zu verabschieden. In ihm ist das, was einmal in all seiner Widerständigkeit "Natur" hieß, gleichsam ausgefällt, zum bloßen Bearbeitungsmaterial reduziert, das beliebig gestaltbar ist wie Ton. Mindestens so problematisch am Kulturbegriff ist dessen Unbestimmtheit. "Der Schluss liegt nahe, dass das Wort ,Kultur' gleichzeitig zu weit gefasst und zu eng ist, um besonders nützlich zu sein." (Eagleton) Kultur kann alles sein, Warwick Castle und die "Herstellung von Abflussrohren", die Kultur der Tuareg und all jene menschlichen Konditionierungen, die wir mit dem Begriff der Zivilisation verbinden. "Kultur" kann also entweder zu groß sein, dann gibt es aber auch rein gar nichts mehr, was nicht "Kultur" ist; infolgedessen wird der Begriff sinnlos, weil er nichts mehr unterscheidet. Oder aber er ist zu klein und zu erhaben. Als thoretische Herausforderung bleibt, das Verhältnis von symbolischen Formen und Formen von Herrschaft zu bestimmen. Eagletons Buch gibt darauf eine höchst indirekte Antwort, wenn er z.B. die These vertritt, dass eine Ausstellung afrikanischer Kunst, ein bretonisches Liebeslied und das Bekenntnis einer lesbischen Frau nicht automatisch politisch seien, sondern nur unter spezifischen politischen Bedingungen, etwa solchen, die von Ungleichheit, Exklusion und Benachteiligung bestimmt sind. Gegen einen kulturalistischen Partikularismus - von Herder bis zum postmodernen Teppich der Minderheiten - argumentiert Eagleton hier universalistisch: Wenn das Lied des Bretonen, die Liebeserklärung der Lesbe und die afrikanischen Kunstwerke unpolitisch als Lied, als Liebeserklärung und als Kunst aufgenommen würden, dann wäre das ein Hinweis auf gesellschaftliche Verhältnisse, in denen die Betroffenen auch in ihrer eigenen Interpretation zu ihrem Recht gekommen sind. Eagletons Buch, das der Kultur einen bestimmten Platz zuweisen und sie gleichsam in die Schranken weisen möchte, endet dort, wo die kulturwissenschaftliche Arbeit beginnt, bei der Frage, wie sich naturale Vorgegebenheiten, kulturelle Symbolisierungen und Herrschaftsformen überlagern und miteinander verbinden. Denn nur unter der Trennscheibe der Theorie sind sie isolierbar. Es ist vor allem der Körper, der in den letzten Jahren, nicht nur in den Gender Studies zum Objekt wissenschaftlicher Begierde geworden ist. Der Körper erweist sich als jener Ort, wo sich "Natur", "Gesellschaft" und "Kultur" überlagern: als vorgängiges leibliches In-der-Welt-Sein, als verletzliches Instrument der Selbstbehauptung, als Feld symbolischer Einschreibungen. So nimmt es nicht Wunder, dass der Begriff des Habitus, den der kürzlich verstorbene französische Theoretiker Pierre Bourdieu als Kategorie sozialwissenschaftlicher Analyse entwickelt hat, mehr und mehr im kulturwissenschaftlichen Diskurs an Bedeutung gewinnt. "Einverleibung" meint, wie Bourdieu in seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft schreibt, jenen durchaus nicht primär rationalen Prozess, mittels dessen sich symbolische Strukturen in den Körper einschreiben. Gegen die Irrtümer der scholastischen Vernunft (zu der er auch den Poststrukturalismus einer Judith Butler zählt) geht Bourdieu davon aus, dass Habitualisierung weder das Ergebnis mechanischen Handelns noch das Resultat bewusster Optionen ist. Habitualisierung erfolgt primär nicht durch diskursive Disziplinierung, wie es Foucaults frühes Werk nahe legt, sondern ist, gleichsam am Bewusstsein vorbei, direkt auf den Körper gerichtet. Bei der symbolischen Einverleibung spielt noch immer die Intimität der Familie die entscheidende Rolle. Wie schon Stuart Hall hellsichtig angemerkt hat, greift Foucaults Konzept von Macht entschieden zu kurz, wenn er sie vornehmlich im Diskurs ortet. Das nährt Bourdieu zufolge die Illusion (wie etwa im amerikanischen poststrukturalistischen Feminismus), dass die Dekonstruktion bestimmter Geschlechterdiskurse die geschlechtlichen Habitualisierungen aufzubrechen vermöchte. Diese sind indes viel tiefer verankert und - so ließe sich hinzufügen - sie korrespondieren mit unhintergehbaren Erfahrungen "eigener" Leiblichkeit. Bourdieus letztes Buch ist nicht als ein Beitrag zur Methodik der Kulturwissenschaften verfasst, stellt aber gleichwohl einen eminent wichtigen Beitrag zu dieser dar, weniger wegen der Kritik einer scholastischen Vernunft, der die soziokulturellen Voraussetzungen ihres reinen Denkens systematisch entgehen, sondern weil hier eine Analyse vorliegt, die exemplarisch zwischen den Formen symbolischer Sinngebung und den Formen von Herrschaft "vermittelt", und weil hier die extrem schwierige Frage, wie kulturelle Symbolik und praktisches Handeln aufeinander bezogen sind, einer Lösung zugeführt werden, die menschliche Existenz nicht als einen scholastisch traktierbaren Text behandelt, sondern als integralen Bestandteil dessen, was Bourdieu als symbolische Gewalt beschreibt. Aber so wenig es nur Kultur gibt, so wenig gibt es auch nur Herrschaft. Gegen Habermas und Foucault besteht Bourdieu darauf, dass im Diskurs stets Widerständiges mitschwingt, Einspruch gegen das, was Kafka das Gericht genannt hat. (Von Wolfgang Müller-Funk - Album, 18.05.2002)