Erfurt - Niemand ahnte das Ausmaß des Verbrechens, als um 11.05 Uhr der Schuldiener die Polizei alarmierte, weil es "eine Schießerei" gebe. Die Polizei rückte zusammen mit Beamten eines Sondereinatzkommandos an und sperrte die Gefahrenzone in dem dicht besiedelten Gebiet, in dem die Schule steht, ab.Mit Maschinenpistolen drangen dann die Polizeibeamten in das Gebäude ein. "Überall lagen Leichen", berichtete einer der Einsatzmänner später. Auf den Gängen, in einzelnen Zimmern und auf einer Toilette wurden getötete Menschen gefunden. Da im ersten Stock an einem Fenster ein Zettel mit der Aufschrift "Hilfe" hing, gingen die Einsatzkräfte davon aus, dass sich die - wie vorerst vermutet wurde - zwei Täter dort mit Geiseln verschanzt halten. Das Gymnasium, an dem rund 750 Schüler unterrichtet werden, wurde nach und nach evakuiert. Völlig verängstigte Kinder mussten nach draußen geführt und dann mit Bussen abtransportiert werden, viele hatten sich bei der Flucht vor der Schießerei verletzt. Bei der Stürmung kam es zu einem Schusswechsel zwischen dem Täter und der Polizei, einer der Beamten wurde dabei tödlich getroffen. Der Täter erschoss sich selbst, bis in die Nachmittagsstunden war unklar, wo sich der zweite aufhält, oder ob die Angaben der Betroffenen überhaupt stimmen und es gebe gar keinen zweiten Schützen. Ninja-Maskierung Einige Schüler hatten nämlich erzählt, die beiden wären schwarz maskiert, wie Ninja-Figuren durch das Gebäude gestürmt und hätten mit einer Pumpgun und einer Handfeuerwaffe auf alles geschossen, was sich bewegte. Andererseits gab es Meldungen darüber, dass der Täter ein Schüler sei, der während einer Abiturprüfung in Mathematik aktiv wurde. Er habe die Prüfungsaufgaben angeschaut, gesagt, dass er darüber ohnehin nichts schreiben würde. Daraufhin habe er plötzlich eine Waffe gezogen und wild um sich geschossen. Wegen dieser widersprüchlichen Meldungen musste die Polizei das Gebäude abschnittsweise sichern und evakuieren. Noch immer ist nicht auszuschließen, dass es einen zweiten Täter gibt. Die Polizei war sich zu diesem Zeitpunkt sicher, dass sich kein Schüler oder Lehrer mehr in dem Gebäude aufhält und begann mit einer neuerlichen Suche nach dem vermuteten zweiten Täter. Den "Amoklauf eines Wahnsinnigen" nannte es am späten Nachmittag Innenstaatssekretär Manfred Scherer in einer Pressekonferenz. Die Bundesregierung und Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel zeigten sich bestürzt. "Der Bundeskanzler und die Bundesregierung haben die Ereignisse in Erfurt mit fassungslosem Entsetzen aufgenommen", sagte ein Regierungssprecher. (DER STANDARD, Print- Ausgabe, 27./28.4.2002, aktualisiert)