Das Massaker im Gemeinderat von Nanterre stellt die französischen Präsidentschaftskandidaten mit einem Mal vor große und unappetitliche Versuchungen. In einem bleiernen Wahlkampf, in dem sich die Gunst des Publikums keinem der chancenreichsten Bewerber eindeutig zuneigen will, bietet sich plötzlich ein neues Betätigungsfeld an. Wer es jetzt versteht, den Schock zu seinen Gunsten zu nutzen und sich als Garant für mehr Sicherheit anzudienen, darf sich Aussichten auf Belohnung an der Wahlurne machen - zumal das Thema "Unsicherheit" den Franzosen mehr an die Nieren geht als alles andere, was sonst noch gesellschaftspolitisch virulent ist. Auch eine schmutzigere Wahlkampfstrategie - unterschwellig Bezüge zwischen dem Amoklauf und der Politik des einen oder anderen Wahlkampfgegners herzustellen - böte sich theoretisch an.

Nur: Was hat der Wahnsinnsakt eines derangierten Einzeltäters - und um einen solchen handelt es sich bei dem Amokläufer Richard Durn allem Anschein nach - mit der ausufernden Kriminalität in den Vorstädten zu tun, die der Nation so aufs Gemüt drückt? So gut wie nichts, wenn man den Maßstab der Logik anlegt, aber viel, wenn man auf eine Politik der Gefühle setzt.

Wie eine solche aussehen kann, haben gleich mehrere Kandidaten vorgespielt: der rechtsradikale Bruno Mégret, der ultraliberale Alain Madelin und auch Präsident Jacques Chirac, der einen gedanklich dubiosen Bogen von der alltäglichen "Unzivilisiertheit" bis hin nach Nanterre zog. Das geschah wohl in der Absicht, seinem sozialistischen Kontrahenten Lionel Jospin, der sich unlängst selbst einer "gewissen Naivität" in der Kriminalitätsbekämpfung bezichtigt hat, noch einen schwarzen Punkt aufzumalen. Ein solches Manöver geht nicht nur auf Kosten der Opfer, es ist auch strategisch riskant. Wähler, die die Unredlichkeit solcher Andeutungen durchschauen, könnten sich leicht auch an der Wahlurne von deren Urhebern abwenden.