STANDARD: Das Schreiben eines historischen Romans erfordert Fantasie und Recherche. Was ist wichtiger? Susan Sontag: Die Recherche macht vor allem Spaß. Ich finde eine Geschichte - in diesem Fall die einer polnischen Schauspielerin, die um 1875 mit ihrem Clan nach Amerika auswandert und dort wieder ein Star wird. Dann kam die Idee einer zeitreisenden Erzählerin, im Winter, draußen fällt der Schnee - das ist, glaube ich, aus Dostojewski, eine Szene, die ich bei ihm irgendwo gelesen haben muss. Dann kommt die Arbeit der Details: Der Zeitreisenden ist kalt. Sie ist übrigens nicht ganz ich, ein Alter Ego, eine Parodie. Sie fröstelt, also geht sie zur Feuerstelle, und dann dachte ich mir die ganze Zeit: Hm, haben die Polen damals einen Kamin gehabt? Ich habe in Norddeutschland gelebt und zwei Jahre in Stockholm, und überall sind diese großen Kachelöfen. Später reiste ich selbst einmal nach Polen und fand heraus, dass es Kacheln waren. Im Roman heißt es jetzt: Einen Kamin hätte ich vorgezogen, doch hier wurden die Räume nun einmal mit Kachelöfen geheizt. Das ist also noch eine Spur der ersten Fassung. Darin liegt der Spaß. STANDARD: Wie organisieren Sie das Material? Man darf ja auch nicht zu viel schildern, sonst wird der Text schwerfällig. Sontag: Das Amüsement, die Zerstreuung beim Schreiben historischer Romane liegt aber darin, herauszufinden, was Menschen bei einem Hotelbankett im Jahr 1875 wohl gegessen haben. Es gibt Speisekarten aus dieser Zeit, daher wissen wir, dass damals Tokajer getrunken wurde und dass es zum Beispiel Keilerbraten mit Kirschsauce zu essen gab. Das klang so grässlich, dass ich es in das Buch genommen habe. Schreiben ist Visualisieren. Ich bin hinter den Augäpfeln meiner Figuren. Ich bin da. Sonst kann ich das Buch nicht schreiben. STANDARD: Wie früh während des Schreibens hatten Sie diesen beziehungsreichen Titel "In Amerika" im Sinn? Sontag: Ich brauche den Titel, bevor es losgeht. Den Titel, die Anzahl der Kapitel, den ungefähren Inhalt der Kapitel, das Motto, die Widmung und nach Möglichkeit den letzten Satz auch schon. Ich hatte ja ursprünglich die Idee für zwei Bücher: einen Theaterroman, über eine Darstellerin, vage inspiriert von der Tänzerin Isadora Duncan. Sie ist 45, lebt in Südfrankreich, ist betrunken, wartet auf ihren Freund. Ich schrieb 50 Seiten, aber es war nur Spielerei. Die andere Idee war über Menschen, die nach Amerika kamen, nach Möglichkeit aus einem slawischen Land . . . STANDARD: . . . wo auch Ihre Vorfahren herkommen. Sontag: Ja. Ich möchte nicht verheimlichen, dass es für die Malyna meines Buchs ein historisches Vorbild gibt. STANDARD: Von Amerika sagt man, es hätte die Geschichte der Alten Welt in Geografie übertragen. 1875 könnte der Moment sein, in dem es in die Weltgeschichte zurückkehrt. Sontag: Bei der Recherche war ich tatsächlich überrascht, wie viel von Amerika, wovon ich gedacht hätte, dass es jünger ist, damals schon da war. Der Sezessionskrieg ist vorbei, der Süden wird integriert, es gibt eine Depression, der Kapitalismus formiert sich, Einwandererwellen kommen ins Land, es ist anarchisch und konventionell. Schauspieler waren damals übrigens schon unglaublich gut bezahlt, das fand ich auch überraschend. Edwin Booth hat 3000 Dollar für einen Auftritt verdient, das ist so grotesk viel wie heute der Verdienst von Bruce Willis. STANDARD: "In Amerika" ist den Menschen von Sarajewo gewidmet. Ist das zerrissene Polen auch ein Bild für das untergegangene Jugoslawien? Sontag: Das kam während des Schreibens dazu. Die Chrono- logie war ungefähr diese: 1992 hatte ich Der Liebhaber des Vulkans fertig gestellt, bald danach habe ich beim Schmökern in einem Buchladen die Geschichte der polnischen Schauspielerin gefunden, sehr schnell das Kapitel null geschrieben und bin damit "zu hoch" gestartet. Dann kam Sarajewo dazwischen - es war eine Fact-Finding-Reise einer humanitären Organisation, und ich bin irgendwie hängen geblieben, kam auch immer wieder zurück. Der Roman blieb zweieinhalb Jahre liegen - wir haben ja auch in einer unglaublichen Situation von Armut und Gefahr gelebt, viel Zeit im Keller verbracht, es gab keine Kommunikation mit der Außenwelt. Erst als ich zurückkam, hat die Erfahrung das Buch neu entfacht. STANDARD: Die Sätze über Barbarei und Zivilisation, die Sie damals in den Prolog aufnahmen, wurden durch die Anschläge vom 11. September noch einmal neu lesbar. Ihre spontane Kritik an der Rhetorik der US-Regierung wenige Tage nach den Ereignissen trug Ihnen Ihrerseits heftige Kritik ein. Inzwischen könnten Sie sich eigentlich bestätigt sehen. Sontag: Ich schrieb diese Intervention für den New Yorker, kurz bevor ich zu einer Lesung in der American Academy in Berlin ging, wo ich damals zu Gast war. Ich habe das in dreißig Minuten geschrieben - und jetzt, ein halbes Jahr später, erhalte ich Gratulationen dafür, werde aber auch immer noch angefeindet. Jeder Versuch einer Analyse der Motive wird als Verständnis für die Täter ausgelegt. Ich erzähle Ihnen eine Geschichte über die Stimmung in den USA: Ich bin gut befreundet mit Patti Smith. Sie hat in den letzten Monaten damit begonnen, bei Konzerten einen Song John Walker Lindh zu widmen, dem "US-Taliban", der jetzt vor Gericht steht. Sie wird jedes Mal ausgebuht - von einem Publikum, das eigentlich linksliberal ist und applaudiert, wenn sie von Ralph Nader spricht. Wenn sie von Gnade für diesen 20-jährigen Jungen spricht, wird sie attackiert. In einem Land, in dem Söldner für alle Weltgegenden ausgebildet werden. STANDARD: In Europa wird dieser Tage viel über ein Manifest konservativer US-Intellektueller diskutiert, das den gerechten Krieg der USA verteidigt. Selbst der angesehene liberale Gesellschaftstheoretiker Michael Walzer hat unterzeichnet, was viele überrascht hat. Wurden Sie auch gefragt? Sontag: Sie hätten es nie gewagt, mich zu fragen. Ich gelte als wilde, radikale Person. Dabei halte ich nicht jeden Einsatz amerikanischer Gewalt für illegitim. Ich war für die Intervention in Kosovo. Dieses Manifest wurde jedenfalls in den USA kaum beachtet, während es in Europa große Aufmerksamkeit erfuhr. Das war fast so wie früher, als sich die CIA für intellektuelle Angelegenheiten interessierte. Als hätten sie es lanciert, um Europa bei der Stange zu halten. In den USA braucht es dieses Manifest gar nicht, dort ist jede Andeutung einer Meinung mit einem Inhalt schon ein Problem. Ich komme immer wieder auf dieses prekäre Wort zurück: United we stand. Auf einer Party kam neulich ein Mann zu mir, der für einen Kandidaten arbeitet, der Gouverneur von New York werden möchte. Er habe einen Artikel für die New York Times geschrieben, erzählte er, in dem er massive Wirtschaftshilfe für Afghanistan vorgeschlagen habe. Die NYT habe den Artikel akzeptiert, aber manche Leute hätten ihm geraten, diese Passage zu streichen - "um nicht attackiert zu werden wie Susan Sontag". Ich war perplex. Und dann habe ich gefragt: Haben diese Leute eigentlich schon einmal vom Marshallplan gehört? Nun, sagte er, Wirtschaftshilfe vorzuschlagen wird heute manchmal so verstanden, dass darin eine Kritik an den Bombardierungen liegt. So greift die Selbstzensur um sich. Bert Rebhandl - DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 23./24.3.2002