Mit Popper habe ich mich nicht über Heidegger gestritten, sondern über Plato. Wir schrieben uns und respektierten einander." In seinem wahrscheinlich letzten Interview, wenige Tage vor seinem Tod am 13. März, sprach Hans Georg Gadamer, der kurz zuvor gerade 102 Jahre alt geworden war, unerwarteterweise über seine Beziehung zu dem Wiener Philosophen Karl Raimund Popper. Im Juli hätte auch Popper seinen 100. Geburtstag gefeiert.An jenem Samstagmorgen Mitte Februar haben wir Gadamer in den Hügeln Ziegelhausens, wenige Minuten von Heidelberg entfernt, in seinem Haus besucht. Müde und etwas gebrechlich, aber im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte und sympathisch wie immer, sprach der beachtenswerte Philosoph und Theoretiker der Hermeneutik über Popper. Die Auseinandersetzung mit Gadamers wundem Punkt, der Beziehung zu seinem Lehrer, dem nationalsozialistisch kompromittierten Martin Heidegger, war in einem Gespräch über den Juden Popper, der während des Dritten Reichs aus Wien nach Neuseeland emigriert war, unumgänglich. Nina zu Fürstenberg: Wo haben Sie und Popper sich getroffen? Hans Georg Gadamer: Hier in Heidelberg, aber auch in London. Wir haben uns erst spät kennen gelernt, aber unser Dialog versprach eine gute Entwicklung. War Ihr Verhältnis zu Heidegger nicht ein Hindernis in Ihrer Beziehung zu Popper? Gadamer: Nein, sehen Sie, leider - ja, das möchte ich betonen, leider - haben Popper und ich erst in unserem letzten Lebensabschnitt eine Beziehung entwickelt und einen Briefwechsel angefangen. In dieser kurzen Zeit haben wir jedoch nicht etwa über Heidegger gesprochen - nein: Wir hatten eine Auseinandersetzung über die Philosophie Platos. Ich habe Poppers Kritik an Plato, an seinem "Utopismus" und seinem "Perfektionismus", nie akzeptiert. (Popper bezeichnet Plato als den ersten Vertreter der "falschen Prophezeiungen" - vom Idealismus zum Marxismus, vom Radikalismus zum Historismus -, die der liberale Denker für die großen Übel des letzten Jahrhunderts verantwortlich macht. Für Gadamer hingegen war Plato ein entschiedener, scharfzüngiger Feind der Machthaber seiner Zeit, also der Tyrannei in Athen und Syrakus, die er mit der Waffe der Ironie verhöhnte. Anm. NzF) Natürlich war mir klar, dass Heideggers Beziehung zum Nazismus - und somit auch seine Beziehung zu mir - für Popper inakzeptabel war. Ja, aber ich war ja nicht Heidegger! Wie ich darüber denke, habe ich allerdings schon oft genug dargelegt. Wollen Sie es noch einmal zusammenfassen? Gadamer: Heideggers Wahl war für mich wirklich unbegreiflich. Man muss sich allerdings klarmachen, dass er ein Mann aus kleinen Verhältnissen war, vom Dorf, der durch eine Reihe von Umständen plötzlich zu hoher akademischer Würde gelangt war. Das hat ihm nicht gut getan. Ich weiß zufällig von seiner Frau, dass er eines Tages nach Hause kam und sagte: "Ich habe die Wahl angenommen" und sie darauf entsetzt sagte: "Das kannst du doch nicht machen, Martin." Diese Frau hatte durchaus ihre positiven Seiten und hatte auch eine bessere Erziehung genossen als er. Ihm mangelte es ein wenig daran, obwohl er, wie ich erst später erfahren habe, Wesentliches über die Philosophie schon aus den Gesprächen mit seinem Vater gelernt hatte. Worum ging es in den Briefen und in Ihren Gesprächen mit Popper? Gadamer: Über Plato, den späten Plato und seine Interpretation. Da gibt es einige ausdrückliche Bezugnahmen, über die wir uns nicht ganz einig waren. Trotzdem hatte ich den Eindruck, es mit einem sehr ernsthaften Mann zu tun zu haben. Bevor ich ihn kennen gelernt hatte, war mir das nicht so klar gewesen. Die verächtliche und spöttische Art, mit der Heidegger und andere über ihn sprachen, habe ich allerdings nie geteilt. Leider ist es durch Poppers plötzliche Krankheit und Tod nicht mehr zu einer wirklich dauerhaften Beziehung zwischen uns beiden gekommen. Die Unterschiede bezogen sich auch auf die Wissens- und Erkenntnistheorie. Gadamer: Ja. Und dann natürlich auch auf die ganze Frage der Pythagoreischen Lehre. Da hatte er ja auch seine Ideen zu finden gemeint. Aber ich habe ihm nicht geglaubt. Schade, denn ich fing gerade an, in ein ernsthaftes Verhältnis mit ihm einzutreten, als er krank wurde. Haben Sie diesen Meinungsaustausch irgendwo aufgeschrieben? Gadamer: Wahrscheinlich sind meine Briefe in seiner Sammlung enthalten, wenn überhaupt. Unsere Diskussionen interessierten mich, und ich lehnte das Gespött über Popper ab, (...) dank meines Freundes Jakob Klein, Autor einer griechischen Geschichte der Mathematik. Klein war ebenso wie Popper ein jüdischer Gelehrter, der emigrieren musste. Ich half ihm damals dabei, und er wurde in verschiedener Hinsicht eine Brücke zwischen mir und Popper.

Kommen wir auf den Unterschied in der Interpretation Platos zurück. Gadamer: Die Ironie in den berühmten Thesen Platos, beispielsweise hinsichtlich des Philosophenkönigs oder der Idee, den Familien ihre Kinder zu nehmen, war für mich klar. Und auch, dass diese Ironie großen Einfluss auf Syrakus und Athen gehabt haben mag. Dieses Unverständnis für Plato trifft man allerdings nicht nur bei Popper, sondern auch bei den klassischen Gegnern des griechischen Philosophen. Sie haben nicht verstanden, dass es sich um Scherz und Spott handelte. Wie beurteilen Sie Poppers Theorie der "Offenen Gesellschaft" und seine liberale Auffassung der Demokratie? Gadamer: Im weitesten Sinne waren wir auf dem selben Wege des rein politischen Liberalismus. Wir teilten eigentlich alle diese Ideen von Anfang an. (Nina zu Fürstenberg - DER STANDARD, Album, 23.03.2002)