Von Ljubisa Tosic
Solange in diesen schweren CD-Zeiten das Wunder der Veröffentlichung von Werken der Moderne bei Major Labels noch stattfindet (wenngleich eher auf Sparflamme), ist noch nicht vom Supergau zu spekulieren, jener Situation also, die an die Vortonträger-Steinzeit erinnert, als eben Neuheiten akustisch undokumentiert blieben. Gott sei Dank gibt es Independents wie Kairos, und immerhin hält Universal, im Besitz der Deutschen Grammophon, noch immer am Projekt 20/21 fest und veröffentlicht zumindest arrivierte Klassiker der Moderne. Das Konzept koppelt dabei prominente Interpreten mit bekannten Komponisten - in unserem Fall Sopranistin Christine Schäfer und Pierre Boulez, der bei Pli selon Pli das Ensemble InterContemporain dirigiert. Der Klangpoet der Strenge, der analytische Dirigent, hat ein Werk thematisiert, das ihn seit Jahrzehnten beschäftigt, also typisch ist für seine Schreibweise. In den späten 50er-Jahren begonnen, fand es 1989 seine endgültige Gestalt. Zum einen ist es eine Hommage an den Dichter Stéphane Mallarmé, zum anderen gibt es die Gelegenheit, zu hören, wie Boulez mit der Stimme umgeht - im Bereich des Musiktheaters ist er ja bisher stumm geblieben; die Versuche scheiterten am Tod seiner Librettisten Jean Genet und Heiner Müller. Hier hört man schwebende, delikate lyrische Linien, umgarnt von einer Orchesterlandschaft, die zwischen kurzen aggressiven Stößen und sich langsam entfaltenden, durchatmenden Klängen bewegt. Eine sinnlich ansprechende ruhige Welt, immer bereit zum Forte-Stich. Allerdings immer delikat, empfindlich. Eine Musikhöhle, in der neben den obligaten Instrumenten auch Gitarre und Mandoline agieren. Schäfer, die Vielseitige, die schon Lulu, Konstanze oder Sophie war und mit Boulez auch Schönbergs Pierrot lunaire aufgenommen hat, agiert makellos schwebend und vibratofrei klar. Wer es kulinarischer, emotionsgeladen-heftiger haben möchte, der greife zu den Neuheiten von Giya Kancheli und Sofia Gubaidulina - ebenfalls bei 20/21 erschienen. Beide haben für den Viola-Charmeur Yuri Bashmet komponiert - es begleitet das Orchester des Mariinsy Theaters (unter Valeri Gergiev). Kanchelis Styx ist ein versonnenes Stück für Viola, Orchester und Chor, ist ein dahingleitender Klangfluss, der die Zeit verlangsamt, aber auch punktuell Ausbrüche aus der Verinnerlichung wagt. Ist es noch durchaus als Musik mit doppeltem Boden verstehbar, als kulinarisches Narkotikum für Hörer und gleichzeitig als autonomes Stück Musik, so bedient Gubaidulinas Konzert für Viola und Orchester nie ein gemütliches Zurücklehnen im Klangsofa. Lässt es die Viola zunächst einsam Einzelnoten mit Intensität aufladen, umhüllt es das Soloinstrument dann doch mit dramatischen Schreien des Orchesters. Statische Massen erlangen eine faszinierende Unmittelbarkeit, die ins Bedrohliche kippt. Dazwischen bietet sich für Bashmet die Möglichkeit, seinen charismatischen, tragenden Ton alle möglichen Ausdrucksgestalten anzunehmen. Das Werk hat etwas von unerbittlicher Düsternis, ist von beunruhigender Ruhe, es nistet sich jedoch im Bewusstsein des Hörers ein - klingt nach der letzten Note gleichsam in ihm weiter. Sehr eindringlich. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22. 3. 2002)