Vom Westen nahezu unbemerkt hat in Russland eine eigenwillige elektronische Musikszene Planwirtschaft und Zensur überlebt. Mit veralteter Technik und raubkopierter Software behauptet sie sich gegen MTV und mafiafinanzierten Pop-Kitsch. Der litauische Experimental-Elektronikmusiker und Psychologe Richard Norvila (Jahrgang 1961) liebt das Rauschen Moskaus, das wie aus einem gnadenlosen Fleischwolf dröhnt, der alles Russische, Tatarische, Armenische, etc. zu Hackfleisch zermalmt. Das ist der Grundstoff für Norvilas Musik. Die produziert der geniale Einzelgänger Norvila, alias Benzo, in seiner Einzimmerwohnung, zwei Stunden Metro-und Busfahrt vom Kreml gelegen. Für Moskauer Entfernungen mitten in der City. Dort stapeln sich bis zur Decke vor ergrauten Blümchentapeten Dutzende alte Schrott-Synthesizer, Mischpulte und Sampler, alles "made in Russia". Für deren angestaubten, warmen Schepperklang würde so mancher Freak im Westen seine komplette Plattensammlung eintauschen. Die staatlichen Kombinate bauten die Musikautomaten aus billigsten Bestandteilen, damit für jeden Arbeiter und Bauern von Novosibirsk bis Lemberg das moderne, einer führenden Industrienation würdige Musizieren ermöglicht würde. Norvila fand die Teile größtenteils im Müll und baute sie für seine Bedürfnisse neu zusammen. Sein Beruf als Psychologe wirft nicht so viel ab, dass er sie hätte kaufen können. Das Leben aus zweiter Hand ist in Russland nicht Lifestyle-Attitüde. Mit dem Begriff "Trash" weiß kein Russe etwas anzufangen, denn: "Russland ist gelebter Trash", erklärt der Österreicher Markus Tröscher, Mitgründer des russischen Plattenlabels www.records.ru und Konsulent für Warner Brothers in Moskau. "Was wir im Westen so trendy finden, ist hier reine Überlebensstrategie." Während auf dem Grund der Barentsee das Atom-U-Boot Kursk als Sinnbild für die herabgewirtschaftete Weltmacht lag, gelang es zur gleichen Zeit Petersburger Hackern, die Quell-Codes von Microsoft zu knacken. Kein Land, das sich derart am Puls der Zeit bewegt und ihr gleichzeitig so sehr hinterherhinkt. Aber Umbrüche tun der Kunst bekanntlich gut. Allen voran dem Zehn-Millionen-Moloch Moskau, der gerade einen Hype erlebt, der seinesgleichen sucht. Die Kids produzieren ihre Musik in der Hauptstadt und in Petersburg, selbst in der sibirischen Provinz, ohne Rücksicht auf Politik, Tradition, Zensur, Copyright und Markt. Zum Teil auf derart alten Computern, dass auf die jeweiligen Festplatten nur ein Song passt, der dann auf Kassette überspielt und gesichert wird. Dann müssen die Daten im Computer gelöscht werden, um weiter produzieren zu können. Kassetten stellen in Russland immer noch die wichtigsten Verteilermedien für elektronische Musik dar. "Die holen alles aus ihren alten Schrottkisten raus. Bis Mitte der Neunziger haben viele Cracks ihre Musikprogramme sogar noch selbst programmiert. Paradox ist, dass gleichzeitig viele Musiker mit der allerneuesten Software arbeiten, die es auf dem perfekt organisierten Schwarzmarkt für einen Spottpreis zu kaufen gibt", erzählt der 29-jährige Moskauer Andrej Gratchiov, der derzeit an einer Enzyklopädie russischer elektronischer Musik schreibt. "Die Kids benutzen alles, was nur einen Ton von sich gibt: Sie samplen, was sie in die Hände kriegen, bauen alte Synthesizer um, verfremden Gefundenes von der Straße als Percussioninstrumente und arbeiten mit Geräuschgeneratoren", so Gratchiov. "Wenn die im Westen unsere Tracks hören, schütteln die nur ungläubig den Kopf: Auf diesem Ramsch ist dieser Sound gebastelt worden? Unglaublich!" Was die Russen zusammenbrauen, sei einerseits "sehr geräuschvoll und postindustriell": "Unsere Städte sind grau, und die Gesichter der Leute sind es auch." Andererseits: "Unsere Musik ist viel melodischer als die im Westen. Unsere Sounds wollen schon cool sein, aber stets schwingt ein wenig Melancholie dabei mit." Das kann Richard Norvila nur bestätigen: "Ich hasse elektronischen Sound, für den man die ganze Betriebsanleitung durchackern muss, um ihn zu verstehen. Für mich soll er direkt in den Stoffwechsel gehen." Seine eigenwilligen Elektronikmärchen, wie etwa Am Lagerfeuer , das von den Pionierlagern in seiner Kindheit erzählt, sind dramaturgische Tondichtungen, die sich erlauben, ironisch und kitschig zugleich zu sein. Zu Sowjetzeiten gab einzig und allein das staatliche Label des Kulturministeriums der UdSSR mit dem programmatischen Namen Melodija Platten heraus. Was darauf zu hören war, wurde 1932 auf einem von Lenin einberufenen Kultursymposium festgelegt: sozialistischer Realismus, einfache Melodien, die "das Volk versteht". Außer Filmmusik von Eduard Artemyev in den 60er- und 70er- Jahren hatte es elektronische Musik in der Sowjetunion nach Lenins Kunstedikt offiziell nie gegeben. Erst 1989, in den Tauzeiten der Glasnost, durfte der Underground-Elektroniker Mikhail Chekalin (Jahrgang 1959) vierzehn Langspielplatten auf Melodija veröffentlichen. In Deutschland ist vor kurzem eine CD, Night Pulsation , bei Erdenklang erschienen. Auf ein funktionierendes Vertriebssystem können die Elektroniker nicht zählen. Auch die Auftrittsorte sind dünn gesät. Und die CD-und Plattenfabriken, die irgendwelche dubiosen Geschäftsleute betreiben, würden bestenfalls bei Auflagenzahlen von 100.000 Stück ihre Maschinen wieder anschmeißen, meint der Elektronikhistoriker Andrej Gratchiov. Auch die Vermarktung populärer Musik wird von der Mafia organisiert. "Die Vertriebssysteme von MCs und CDs sind zu 95 Prozent in den Händen von Piraten. In Moskau sind sie immerhin zu 60 Prozent legal", erzählt Markus Tröscher von Warner Brothers. "In die entlegenen russischen Provinzen werden für gewöhnlich nur die Inlays an die Hersteller geliefert. Die produzieren die Musikträger vor Ort selbst." Geld gibt es ausschließlich für den "MTV-Sound", wie die Russen ihren schmalzigen Pop nennen. "Wer in Russland Geld hat, leistet sich einen Popstar. Das gehört zum guten Ton", konstatiert Tröscher. Mitte der Neunziger waren Techno oder Drum & Bass extrem populär, präzise bis Oktober 1998. Damals kam nicht nur die Rezession, sondern auch MTV legte in Russland los. "Die Popmusik", bedauert Andrej Gratchiov, "hat uns das Wasser abgegraben, aber wir verdursten noch lange nicht." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22. 3. 2002)