Joseph Zoderers Roman Der Schmerz der Gewöhnung hat eine äußere Handlung, die in Wirklichkeit seine innere ist, seine Tiefenstruktur. Sie ist geprägt vom Widerspruch zweier Erfahrungen: der Wiederholung und der Endgültigkeit. "Noch einmal" bricht der Journalist Jul auf in den Süden. Als Kind erschien ihm bereits Bozen, wohin seine Familie aus dem Norden kam, als Verheißung des Südens. In späteren Jahren waren es die griechischen Inseln. Die Reise jetzt führt ihn ins sizilianische Agrigent, in die Heimat seiner Frau Mara, von der er sich getrennt hat. Er steigt in einem sonnendurchfluteten, aber etwas schäbigen Hotelzimmer ab, allein. Er geht ziellos in der Stadt bergab, bergauf. Was er sieht, ist zufällig. Alles ist ihm gleich nah oder gleich fern: der Müllkübel, das Meer, der Grund seiner Reise. Er lebt, er ist glücklich - aber sein Leben hat die Spannung verloren, sein Glück ist schal. Auf dem Hotelbett liegend, den Blick auf die Löcher in der Wand fixiert, wird er von seiner Lebensgeschichte eingeholt. Der Blick nach draußen, auf die Tempel und das Meer am Horizont dahinter, ist der Blick in eine Zukunft, die er nicht mehr erreichen wird. Agrigent ist Endstation. Jul weiß es, wir wissen es. Trauerarbeit: Alles wird noch einmal genau durchlebt. Aber was? Dass im Leben Juls und Maras nichts gestimmt hat. Auch das Gelungene nicht. Zoderer beschreibt in seinem Roman eine Reise, von der keiner zurückkehrt. Die letzte Reise ist eine Rückreise - der bei sich zu Hause gestrandete Odysseus. Die letzte Reise ist nicht Wiederherstellung, sondern Verzehr. Das ist die überraschende und verstörende Erkenntnis dieses Romans. Im Erinnerungsprozess läuft die Zeit nicht zurück. Wenn Juls Geschichte erzählt ist, ist seine Zeit zu Ende, seine Geschichte uninteressant geworden. Der Erinnerungsbogen ist zusammengebrochen unter dem Druck eines Lebens, das er vor dem Zusammenbruch retten sollte. Auf dem "schmierigen" Teppich der Hotelloge bricht Jul zusammen, dem Portier "schmiert" er noch Maras Telefonnummer auf einen Zettel. "Er rollte sich ein wie sein Hund, weit weg in den Bergen." Ein ruhiges, ein beunruhigendes Schlussbild. Jul ist in sich verschwunden. Er hat ein Ziel erreicht, sein Ziel vielleicht. Der deutschstämmige Jul ist in zweiter Ehe mit der italienischsprachigen Mara verheiratet, deren Vater Gaetano de Pasqua aus Agrigent von Mussolini ins Alto Adige kommandiert wurde. In Bozen hatte der kleine, stramme "Federale" für die Faschisierung der Jugend zu sorgen; später wurde er ein angesehener Advokat und Bauunternehmer, was denn sonst. Wenn es nach den de Pasquas gegangen wäre, wäre ein Jul nicht in ihr Haus gekommen, sagt Maras Tante bei der Hochzeit. Juls Vater, dessen Familie aus armen Verhältnissen 1939 zunächst für Hitler und gegen Mussolini "optiert" hatte (welche Alternative!), wechselte die Seite: Wer Arbeit wollte, musste Italiener sein, und wer Italiener sein wollte, musste Faschist werden. Am Hochzeitsfest von Jul und Mara saßen Nazis und Faschisten, Walschenfresser und Walsche, an einem Tisch. Die Walschen aber waren die Herren. Auf dem Totenbett des übermächtigen Vaters zeugt Jul mit Mara ein Kind - und Mara hat seither nie mehr so unter ihm liegend geschrien, erinnert sich Jul. Das Kind Natalie wird beim Schwimmen ertrinken, vielleicht weil Mara gerade nicht aufgepasst hat, als sie mit Luca an der Bar saß. Luca ist ihr Freund, ihr Liebhaber vielleicht, ein Italiener jedenfalls. Natalies Tod zerbricht Juls und Maras Ehe, ist vielleicht auch Auslöser von Juls Hirntumor - eine drastische, zu drastische Geschichte. Zoderers Roman hätte Überhöhungen gar nicht nötig. Überzeugender sind seine leisen, nicht leicht formulierbaren und doch hörbaren Dinge: die vielfältige Erfahrung von Fremdheit noch in den letzten Residuen des Privaten, die alle, Einwanderer und Einheimische, gleichermaßen und ohne Ende zerfrisst. Die Jul schließlich sich selber fremd werden lässt, weil sie ihm eine Zugehörigkeit aufzwingt, von der loszukommen Mara ihn einst hoffen ließ. Die Geschichte, die Joseph Zoderer erzählt, ist die Geschichte, die ihn zum Schriftsteller gemacht hat: die Geschichte Südtirols. Eine Geschichte von Fremden im eigenen Land, die keine gemeinsame Sprache finden. Aber es ist die Tiefenstruktur, diese größere Fremdheit (wie die größere Hoffnung Ilse Aichingers), die Zoderers Roman wichtig macht. Sie zu entwickeln, braucht er Raum. Vielleicht ließe sich an seiner Oberfläche sozusagen das eine oder andere raffen, die eine oder andere Episode überspringen, die eine oder andere Wiederholung wegstreichen - es würde nichts ändern: Zoderer ist ein langsamer Erzähler. Und ein Erzähler der Langsamkeit. Die Zeit, die sich Zoderer nimmt, Juls Weg von Bozen nach Agrigent (von Agrigent nach Bozen!) zu erzählen, ist sein Versuch, gegen den Lauf der Zeit, der Jul die Zeit zum Leben genommen hat, zu erzählen. Erst durch diesen Widerstand der Langsamkeit wird die politische Geschichte auch erzählbar, in die Juls und Maras Geschichte unauflösbar verstrickt ist. (DER STANDARD; Album, 16.03.2002 - Von Samuel Moser)