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Enger Flur, Bürotüren. Auftritt: zwei Diplomaten. Erster: "Jetzt ist Marokko wieder sauer, weil wir schreiben, dass sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben." Zweiter: "Sie freuen sich aber auch, weil wir schreiben, dass sie es schwer hatten, weil Europa seine Hausaufgaben auch nicht macht." Kaisermühlen-Blues? In Kaisermühlen, im Vienna International Center, haben die Drogenkontrollorgane der Vereinten Nationen ihren Sitz: das Drogenkontrollprogramm (UNDCP) und der Suchtstoffkontrollrat (INCB). Die beiden Herren feilten gerade am Jahresbericht des INCB. Seit dem 27. Februar ist dort in diplomatisch geschliffener Sprache alles nachzulesen, weshalb wir die Protagonisten des zitierten Korridorgesprächs auch nicht nennen wollen. Die Rede ist von Cannabis, konkret von Cannabisharz: Haschisch. 60 bis 70 Prozent des europäischen Marktes werden von Marokko versorgt. (Was Marihuana betrifft, die pflanzliche Rohform, so spielt Albanien eine bedeutende Rolle als Zulieferer; immer wichtiger wird aber auch der häusliche Eigenanbau.) Das Gespräch der beiden Herren ging darum, dass Marokko es schwer hat, den Anbau zu unterbinden, wenn jenseits der Straße von Gibraltar ein begieriger und kaufkräftiger Markt lockt. Die internationale Drogenkontrolle wird von drei UN-Konventionen geregelt, deren Ziel es ist, den Konsum von Drogen für andere als medizinische Zwecke zu verhindern: Die Drogen-Einheitskonvention von 1961 katalogisierte die fraglichen Stoffe und regelte den Verkehr mit ihnen. Deshalb spricht man besser von kontrollierten Substanzen. Verschiedene "illegale Drogen" werden unter Aufsicht des INCB durchaus legal produziert und gehandelt; zum Beispiel Opiate für Schmerzmittel. So gibt es derzeit teilweise erbitterte Debatten über eine mögliche Zulassung von Cannabisprodukten zur Behandlung von Nebenwirkungen der Chemotherapie, multipler Sklerose, dem grünen Star und Aids. (Verschiedene, heute gefürchtete Suchtstoffe waren andererseits bis vor kurzem noch relativ frei erhältlich. Es handelt sich hier um einen fortlaufenden Prozess auf der Basis neuer Entwicklungen, sich verändernder Wahrnehmungen, wachsender Erkenntnisse - sowie wirtschaftlicher und politischer Interessen.) Die Einheitskonvention von 1961 wurde im Jahr 1971 um psychotrope Substanzen erweitert. Die Wiener Konvention von 1988 widmete sich schließlich vornehmlich Maßnahmen bei Verstößen gegen diese beiden, d.h. dem Kampf gegen den illegalen Drogenhandel. Zusammen mit Substanzen wie Heroin und Kokain stehen Cannabis, Haschisch sowie Cannabisauszüge und -tinkturen auf der Liste No. 1 der UN-Konvention von 1961. Die dort aufgeführten Stoffe sind grundsätzlich weltweit verboten, besser gesagt: der Verkehr mit ihnen ist strengen Kontrollen unterworfen. Der INCB befürchtet einen drogenpolitischen Dammbruch: "Einige westeuropäische Regierungen haben Gesetze eingeführt, die Cannabisanbau und -besitz für den persönlichen Konsum entkriminalisieren. Vier Staaten der Europäischen Union (Italien, Luxemburg, Portugal und Spanien) bestrafen weder den Besitz für den persönlichen Gebrauch noch sehen sie darin eine kriminelle Handlung", beklagt eine Presseaussendung: Die niederländischen "Koffie-Shops" verstießen gegen die Konvention von 1961 ebenso wie eine geplante Gesetzgebung in der Schweiz, die die gesamte Kette von der Produktion bis zum Konsum legalisieren würde, so lange es sich um Bedarf für den persönlichen Konsum handelt. Und das ist nur die Spitzes des Eisberges. Die vom INCB kritisierte gesetzgeberische Praxis in einigen Ländern ist eine Sache, die Rechtspraxis eine andere: Gesetze, die formal den Konventionen entsprechen, werden auf dem Verordnungswege abgeschwächt oder außer Kraft gesetzt; wie Polizisten und Richter vor Ort tatsächlich verfahren, bleibt nicht selten weitgehend ihnen überlassen. Die zunehmende Anwendung des Opportunitätsprinzips führt zu Situation des fortgesetzten Rechtsbruchs und gefährdet die Universalität der Drogenkontrolle durch international anerkannte Konventionen, wie der INCB beklagt: Wer glaubt, wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse zu haben, dass Cannabis weniger schädlich ist als bisher angenommen, der möge diese der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Prüfung vorlegen. Die Konventionen könnten dann entsprechend geändert werden. Indes: Gerade zu Cannabis gibt es eine Vielzahl von Bestimmungen, so dass man weite Teile der Konventionen modifizieren müsste, wozu 175 Mitgliedsländer unter einen Hut zu bringen wären. Skeptiker weisen überdies auf das Schicksal einer Kokain-Studie der WHO aus dem Jahr 1995 hin. Weit davon entfernt, etwa eine Freigabe von Kokain zu empfehlen, hatte sie berichtet, dass weltweit recht unterschiedliche Formen des Konsums angetroffen wurden, mit entsprechend unterschiedlich ausgeprägten Konsequenzen. Besonderen Anstoß erregte damals der Satz, dass der traditionelle Konsum des Kokablattes (nicht des Kokains!), wie er im Andenhochland verbreitet und dort auch von der Wiener UN-Konvention von 1988 als legitim anerkannt ist, offenbar keine gesundheitlichen Komplikationen mit sich bringe, aber große soziokulturelle Bedeutung für die Andenvölker habe. Es gab Proteste einer Reihe von Nationen unter Führung der Vereinigten Staaten. Die Studie verschwand auf Nimmerwiedersehen in einer Genfer Schublade. Auch das derzeit aktuellste (und sehr lesenswerte) Papier der WHO zu "Cannabis: a health perspective and research agenda" (www.who.int/substanceabuse/docs/cannabis.pdf) war umstritten. Den Wissenschaftern wurde eine Verharmlosung der gesundheitlichen Konsequenzen des Cannabiskonsums vorgeworfen, als sie Vergleiche mit Alkohol und Nikotin anzustellen wagten. Eine flurbereinigte Version des Papiers erschien dann mit zwei Monaten Verspätung (zusammen mit einer Presserklärung, in der man die zwei Tage später in der renommierten Wissenschaftszeitschrift New Scientist gedruckte Behauptung dementierte, die WHO sei gegenüber politischen Pressionen eingeknickt). Man kann in der Tat geteilter Meinung darüber sein, inwieweit man Äpfel mit Birnen (Cannabis mit Alkohol oder Nikotin) vergleichen kann und soll. Auffällig ist jedoch: Wo immer der Ruf nach drogenpolitischen Reformen laut wird, trifft er sogleich auf entschiedene Ablehnung. Vorwürfe an Medienwelt und Popkultur, den Drogenkonsum zu verharmlosen - was gemäß der UN-Konvention bestraft gehöre - oder die Zurückweisung wertungsneutraler Begriffe wie "Konsum" oder "Gebrauch" im Zusammenhang mit illegalen Drogen, erscheinen vielen nicht mehr zeitgemäß: Sie rückten das INCB für Reformer in die Nähe drogenpolitischer Fundamentalisten vom Schlage des denkwürdigen Commissioners Henry J. Anslinger vom US Bureau on Narcotics, der im Jahr 1943 den Jazz als angebliche Werbung für den Drogenkonsum verbieten wollte. Über die Einhaltung von Buchstaben und Geist der Konventionen zu wachen ist freilich das Mandat des INCB. Die Frage muss aber erlaubt sein, inwieweit diese nach immerhin 41 Jahren den gesellschaftlichen Realitäten noch gerecht werden. Solange es bereits gegen Reformdebatten erbitterten Widerstand gibt, wird reformwilligen Nationen nichts anderes übrig bleiben, als weiter mehr oder weniger am Rande oder jenseits des von den Konventionen gesetzten Handlungsrahmens "herumzuwurschteln", wie man in Kaisermühlen sagen würde. Man muss sich daher die Frage stellen, inwieweit nicht ein Abblocken dieser Debatten, wenn es offenbar in der Praxis ein immer massiveres Abrücken vom 1961 beschlossenen Konsens zur Folge hat, damit langsam, aber sicher diesen selbst, nebst den mit ihm verbundenen Institutionen, der Bedeutungslosigkeit preisgibt. Das wäre alles andere als wünschenswert. Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass es hinsichtlich illegaler Substanzen noch einen enormen Forschungsbedarf gibt. Das liegt nicht zuletzt am komplexen Aufbau und der vielschichtigen Wirkungsweise, die diese Stoffe, bei unterschiedlichen Konsumformen zumal, in einem so komplizierten Kosmos wie dem menschlichen Körper entfalten. Von den gesellschaftlichen Auswirkungen ganz zu schweigen. Auch wenn Cannabis weniger schädlich sein mag als Alkohol oder Nikotin: Wollen wir eine weitere schädliche Substanz zulassen? Und wenn ja, dann inwieweit? Oder wollen wir besonders die schwächeren Glieder der Gesellschaft, die, wie beim Alkohol auch, ganz besonders anfällig für die negativen Folgen des Konsums zu sein scheinen, davor schützen - und mit ihnen die Gesellschaft. Und wenn ja: Wie geht das am besten? Durch Verbote? Bis zu einer Klärung dieser und weiterer Fragen ist ein fortgesetztes und vermehrtes Herumwurschteln an den Rändern der internationalen Konventionen zu erwarten. Und es ist, realpolitisch betrachtet, vielleicht gar nicht die schlechteste Lösung, denn es erlaubt eine rasche Rückkehr zum Status quo ante, sollten sich liberale Experimente als zu kostspielig erweisen. Übrigens: Die Vereinten Nationen selbst sind gegen das Opportunitätsprinzip keineswegs immun. Als das UNDCP im Jahr 1998 im Rahmen eines Zehnjahresplans zur Vernichtung oder Reduzierung so genannter Drogenpflanzen Energien und knappe Ressourcen auf Koka und Schlafmohn (Opium) zu konzentrieren gedachte, sah es sich unverhofft der Kritik vor allem afrikanischer Staaten ausgesetzt: Ob denn nicht auch Cannabis auf dem Index der Konvention stehe und ob Cannabis etwa nicht die am weitesten verbreitete unter den "illegalen Drogen" sei? Der Kaisermühlen-Blues geht weiter. (DER STANDARD-ALBUM, Print-Ausgabe, 9. /10. 3. 2002)