Patrick: Nach dem ersten Durchhören muss ich sagen, dass ich ganz hingerissen bin - das Lied "Sliding Through Life On Charm", das Marianne Faithfull gemeinsam mit Pulp gemacht hab, sing ich jetzt auch schon in der Straßenbahn. Euer erster Eindruck? Jürgen: "Sex With Strangers" hatte ich ja lange vor den anderen Nummern gehört. Mein erster Gedanke war: O je, das wär jetzt aber nicht nötig gewesen, krampfhaft Beats reinzubringen. Passt überhaupt nicht zu ihrer Stimme. - Gefällt mir übrigens noch immer nicht, diese Nummer - dito die darauf folgende. Ab Lied Drei wird die Platte dann aber wieder sehr viel konventioneller. Und so richtig gut (für meine Begriffe). Pia: Also ich freu mich vor allem über die Zusammenarbeit mit Beck - und finde auch das besagte "Sex With Strangers" sehr ok - und auch "The Pleasure Song" gefällt mir. Ich kann dem auch nicht zustimmen, dass die Platte ab dem dritten Lied besser wird. Gerade "I'm On Fire" find ich - verstärkt durch den Hintergrundchor - etwas zu sehr auf Predigt: When I was young and my heart was pure... und der Song "Wherever I go" sind mir etwas zu kitschig. - Resümee: Ich finde die Zusammenarbeit mit Billy Corgan nicht sonderlich gelungen. Jürgen: Also, ich hab mir inzwischen noch mal die "Phantom & Ghost"-CD angehört. Da wird auch eine eigentlich Beats-inkompatible Stimme (in dem Fall Tocotronics Dirk von Lowtzow) mit Elektronik kombiniert - aber da funktioniert's. Bie "Sex With Strangers" klingt's ein wenig aufgesetzt. Die zweite Nummer mit Beck ("Like Being Born") finde ich dafür großartig: My father promised me roses, my mother promised me storms ... . Ein Shanty in hippieskem Akustik-Arrangement ... wunderbar. Wäre zwar gelinde gesagt paradox, bei Marianne Faithfull so etwas wie "Unschuld" zu assoziieren - aber die Nummer erinnert an ihre allerallererste Karriere als Folk-Jungstar für die ganze Familie. Noch vor der Groupie-Phase - geschweige denn dem, was danach kam. Patrick: Also das mit dem Smashing-Pumpkins-Typen ... naja - ich hab schon Besseres gehört. Die Beck-Sachen finde ich super. Auch "Like Being Born" (das hat so diesen 60er-Jahre-Donovan-Charme) mag ich. Zumindest wenn ich betrunken bin. Aber ich wollte eigentlich was ganz Anderes sagen: Ich bin gerade über eine Nummer der englischen Lifestyle-Zeitschrift i-D gestolpert - und da ist ein Interview mit ihr drinnen. Abgesehen von der interessanten Beobachtung, dass Marianne Faithfull mit dieser Platte wohl mehr verkaufen wird als das missglückte letzte Solo-Werk von Mick Jagger (die Groupie-Jahre ...), wird da versucht, ihr eine Art "Grande Dame"-Rolle aufzudrängen. Von wegen der Kooperationen mit den ganzen hippen Leuten: Beck, Jarvis Cocker, Damon Albarn von Blur - und sie sagt da einfach "I´m not your fucking headmistress" - also so ähnlich wie "Ich bin nicht eure Scheiß-Schuldirektorin". Das finde ich ein sehr stilvolles Statement. Jürgen: Ja, dieses Abblocken von Erwartungen hat mich auch sehr beeindruckt: Seit ihrer Kurt Weill-CD dachten alle, sie würde - was ja auch nicht schlecht ist - jetzt endgültig in die Hochkultur-Schiene einschwenken. (Ich hab sie nur einmal live gesehen, und das war bezeichnenderweise in der Oper.) Da denkt man: aha, Alterswerk und so ... aber nein. Sie sagt "leckt mich alle am Arsch" und macht ganz was anderes. Poppiger denn je. Interessant übrigens, dass sie für "Kissin Time" ausschließlich männliche Partner gewählt hat. Ina: Da passt ja auch der Titel sehr gut zu: "Kissin Time". Für eine Frau Mitte 50 ist das doch eine bemerkenswerte Ansage. Keine Spur von Kulturpessimismus. Im Hier und Jetzt im Popgeschehen. Damit das groovt, setzt sie chartbekannte und sogenannte seriöse Musiker als Mitwirkende ein. Trotzdem wirken die Beiträge der Herren für mich auf eine Weise wie die unausgegorenen Restposten ihrer eigenen Veröffentlichungen. Mit Ausnahme von "Sliding through Live On Charme" natürlich. Fantastique! Und Dagmar Koller reicht ihr das Wasser. Pia: "Forever young", indem frau sich mit jungen Männern in Sachen Pop einlässt? Eher ein schönes Beispiel, wie eine Verkörperung der verschiedensten Möglichkeiten des Pop im "Alter" die "Jugend" mit ihrer Erfahrung bereichert - und deshalb sehr wohl "für immer jung". Die ausschließlich männlichen Partner müssen ja auch mit dem Stil, den diese vertreten, gesehen werden. Welche weiblichen Musikpartnerinnen würdest du als interessante Fusion erachten? Jürgen: Courtney Love, eindeutig Courtney Love. [Danach kehrt betretenes Schweigen ein.] Marianne Faithfull: "Kissin Time" (Virgin/EMI 2002)
divergente Anspieltipps: "Sex With Strangers", "Like Being Born", "Sliding through Live On Charme".
(fast_alle)