In Wahrheit ist der Afghanistankrieg nie zu Ende gegangen. Ja, das Taliban-Regime ist entmachtet, seine Führung und die von Osama Bin Ladens Terrororganisation Al-Qa'ida sind tot oder versteckt. Von amerikanischer Kontrolle oder Kontrolle der Kabuler Regierung über Afghanistan kann aber nicht die Rede sein, nicht administrativ, aber auch nicht militärisch, wie man jetzt sieht.So konnten sich im Niemandsland im Südosten Kandahars die versprengten Reste von Taliban und Al-Qa'ida ohne weiteres wieder sammeln - und sich sogar auf den lokalen Märkten versorgen. Resultat ist die größte Bodenoffensive mit US-Beteiligung seit Beginn des Feldzugs im Oktober mit, glaubt man den Berichten, zweifelhaftem Erfolg. Aber auch nach deren Ende wird der Krieg noch nicht gewonnen sein, zumindest nicht für die Afghanen. Denn was die afghanische Regierung anbelangt, so könnte man überspitzt formulieren, dass Premier Hamid Karsai nicht einmal den Regierungspalast, den er in Kabul bewohnt, wirklich beherrscht. Er muss ihn noch immer mit dem Expräsidenten Burhanuddin Rabbani teilen - dessen Anhänger anderswo im Lande die Truppen von Karsais Statthaltern bekämpfen. Aber auch andere Spieler hoffen noch auf ein Stück regionaler Macht. Mit einem Wort: Darüber, dass Afghanistan am Rande des Chaos steht, kann auch der schönste US-Triumphalismus nicht hinwegtäuschen. Allerdings ist zu vermuten, dass das die internationale Gemeinschaft ebenso wenig stört, wie sie die afghanischen Zustände vor dem 11. September gestört haben. In Washington, wo man einen enormen Imageschaden für die Antiterrorkampagne befürchtet, wenn Afghanistan womöglich wieder in den Bürgerkrieg zurückfällt, ist man sich des Problems jedoch sehr wohl bewusst - auch wenn man momentan fast nur mehr den Irak im Munde führt. Die CIA hat in einem als geheim klassifizierten Bericht davor gewarnt, dass das System zusammenbrechen könnte, wenn man Karsai nicht hilft, die weite Teile des Landes beherrschenden Warlords unter Kontrolle zu bringen, und zwar bald. Wie das geschehen soll, dazu gibt es in Washington zwei Denkschulen: Im Außenministerium neigt man dazu, die internationale Afghanistan-Truppe aufzustocken, im Verteidigungsministerium will man eine starke afghanische Armee und Sicherheitstruppe aufbauen. Letzteres hat den Haken, dass es lange, vielleicht zu lange dauert. Ein amerikanisches Dilemma besteht auch darin, dass die USA selbst es sind, die den Warlords erlauben, ihre Kleinkriege weiterzuführen: Geld und Waffen gingen an lokale Kommandeure, die für die USA den Bodenkrieg gegen die Taliban erledigten. Die afghanischen Truppen, die an der gegenwärtigen Offensive beteiligt sind, wurden von den USA ausgerüstet und erhalten einen Sold. Es gibt Kämpfe zwischen Warlord-Truppen darum, wer sich von den USA engagieren lassen darf und wer nicht. Dass dabei ideologische Kriterien - wer früher Taliban oder Antitaliban war - keinerlei Rolle spielen, davon kann man ausgehen. Angesichts dessen gibt es noch wenig Grund für die Afghanen außerhalb der größeren Städte, an die Zukunft der von der UNO eingesetzten Regierung zu glauben. Im Süden tauchten in den letzten Tagen antiamerikanische Flugblätter auf, die die Afghanen daran erinnerten, dass Osama Bin Laden und Taliban-Führer Mullah Omar "der Stolz der Muslime" seien. Dass sie - und andere Spitzen der Organisationen - bisher nicht gefunden wurden, ist mehr als ein Wermutstropfen für die Amerikaner, es ist eine echte Gefahr für die gesamte Antiterrorkampagne. Wenn die scheinbare Ordnung in Afghanistan zusammenbricht, wird man dort und anderswo in der islamischen Welt anfangen, die zivilen Opfer dieses Krieges, die "Kollateralschäden", gegen den "Erfolg" des Feldzugs aufzurechnen. Wenn dann Osama Bin Laden noch lebt, schaut es für die Bilanz schlecht aus. (DER STANDARD, Print, 04.03.2002)