dieStandard.at: Was sagen Sie zur momentanen Diskussion zum Thema Wohlfahrtsstaat, angerissen von Bundesminister Haupt, der meinte, dass der Wohlfahrtsstaat und die Frauen daran schuld seien, dass der Generationenvertrag nicht mehr eingehalten werden kann, da die Frauen durch den Wohlfahrtsstaat zu sehr in ihrem Egoismus gestärkt wurden und nun keine Kinder mehr kriegen wollen? Erna Appelt: Die in letzter Zeit wieder einmal aufgeflackerte Diskussion über den Wohlfahrtssaat verdreht etliche Zusammenhänge. Hier wird zunächst das Streben nach Selbstverwirklichung und die Bereitschaft, Kinder zu bekommen, als Gegensatz dargestellt. Für die allermeisten jungen Frauen bedeutet Selbstverwirklichung jedoch beides: sie wollen ein erfülltes Beruf- und Familienleben vereinbaren. Tatsächlich schieben viele Frauen oder Paare ihren Kinderwunsch auf, solange ihre berufliche Situation noch völlig ungesichert ist. Die Zunahme von prekären Beschäftigungsverhältnissen, die Schwierigkeit, im Berufsleben Fuß zu fassen, erschweren es vielen jungen Frauen, ihren Kinderwunsch zu realisieren. Das zweite Verwirrspiel in dieser Diskussion ist die Aussage, dass der Wohlfahrtsstaat an der geringen Geburtenrate „schuld“ sei. Nun lässt sich nachweisen, dass die Geburtenrate in hochindustrialisierten Ländern überall dort über dem Durchschnitt liegt, wo der Wohlfahrtsstaat großzügig ausgebaut ist. Schweden war lange Zeit das bekannteste Beispiel für die Kombination von überdurchschnittlich hohen Erwerbsraten von Frauen und überdurchschnittlich hohen Geburtenraten. Dies war deswegen möglich, weil großzügig Karenzregelungen und institutionelle Betreuungseinrichtungen bereitgestellt wurden. Ein berühmtes Gegenbeispiel war das radikale Absinken der Geburtenrate nach dem „Zusammenbruch“ der DDR: Der Grund dafür war die radikale Verunsicherung der Frauen hinsichtlich ihrer Erwerbsmöglichkeiten (hohe Arbeitslosigkeit) einerseits, hinsichtlich der Betreuungseinrichtungen andererseits. dieStandard.at: Wie stehen Sie zum jüngst eingeführten Kindergeld und schließen Sie sich den Einschätzungen Minister Haupts an, dass es zu einem Geburtenanstieg kommt? Erna Appelt: Finanzielle Transfers (Kindergeld) sind erstens deswegen problematisch, weil sie nur kurzfristig eingesetzt werden können. Die Entscheidung, Kinder zu bekommen ist jedoch eine sehr langfristige Entscheidung. Zweitens sind finanzielle Transfers nur für die untersten Einkommensgruppen ein reeller Ersatz für die Lohneinkommen. Hingegen bieten institutionelle Lösungen (Kindergärten, Horte, Karenzmöglichkeit nach der Geburt des Kindes sowie bei Krankheit der Kinder etc.) die Möglichkeit, Erwerbsarbeit und Kindererziehung zu kombinieren und damit mehr Sicherheit. Ein völliger Rückzug aus dem Arbeitsmarkt hat hingegen auch dann nachteilige Folgen für Frauen (Armutsfalle), wenn er nicht von Dauer ist. Es wäre zu wünschen, dass Frauen (und Männer) in erster Linie berufstätig sind, weil sie sich selbst verwirklichen wollen. Tatsache ist jedoch, dass Berufstätigkeit für die allermeisten Frauen eine Überlebensnotwendigkeit ist. dieStandard.at: Welche Auswirkungen hat Ihrer Meinung nach ein Abbau des Wohlfahrtsstaates auf die Frauen? Und damit für die Gesellschaft? Erna Appelt: Nicht der Ausbau, sondern der Abbau des Wohlfahrtsstaates ist eine der Ursachen für den Rückgang der Geburtenrate. Denn dieser Abbau bedeutet, dass viele Menschen verunsichert werden, nicht mehr langfristig planen können und den Frauen wieder die Verantwortung für ihre Kinder zur Gänze aufgebürdet wird. Das Problem ist es nicht nur das Abschlanken von einzelnen Leistungen, sondern hier spielt die neoliberale Politik als solche eine entscheidende Rolle. So heißt z.B. „Liberalisierung von Arbeitszeitregelungen dass einerseits Arbeitszeiten ausgedehnt werden, andererseits Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung zunehmen. Und diese Veränderungen laufen geschlechtsspezifisch: Überlange Arbeitszeiten von Männer zementieren jedoch neuerlich die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung; Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse von Frauen erschweren oder verunmöglichen Aufstiegschancen und stellen à la longue eine Armutsfalle darstellen. dieStandard.at: In den letzten Dekaden ist immer mehr der Kostenfaktor der Sozialleistungen und damit deren scheinbare Unfinanzierbarkeit in den Vordergrund der Diskussion gestellt worden. Wie sehen Sie das? Ist der Wohlfahrtsstaat wirklich unfinanzierbar bzw. welche Strategie steckt hinter dieser Argumentation? Erna Appelt: Ob und wie der Wohlfahrtsstaat bzw. die Staatsausgaben insgesamt aufgebracht werden können, hängt von vielen Faktoren ab. Ein wichtiger Faktor ist zunächst die Produktivität. Ein weitere Faktor ist die staatliche Ausgabenstruktur als solche. So müsste ernsthaft gefragt werden, ob es für Österreich sinnvoll und rational ist, Abfangjäger zu kaufen. Es könnte aber auch diskutiert werden, was eigentlich der Dienstwagen eines Ministers kosten darf; ähnliche Fragen könnten bei so manchen Bezügen und Abfertigungen etc. gestellt werden, wo die Durchschnittsbürgerin nur so staunen darf. Auch die Frage der Erbschafts- und Vermögenssteuer u.ä. muss in diesem Zusammenhang gestellt werden. dieStandard.at: Welche Perspektiven für die Zukunft sehen Sie? Kann, und wenn ja, wie kann eine Kurswende vom Neoliberalismus, der zwar mit den Unruhen in Argentinien und der Enron-Pleite in den USA einen Rückschlag erlitten hat, aber noch immer allgemeiner Konsens zu sein scheint, herbeigeführt werden? Erna Appelt: Heute brauchen wir eine neuerliche Wende vom globalen Neoliberalismus zu einem politischen Liberalismus, der sich auf den Grundwert der Freiheit besinnt. Frei sind Menschen dann, wenn sie tatsächlich zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen können. Das setzt jedoch sehr nicht nur persönliche Unabhängigkeit voraus, sondern auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die menschliche Entfaltung in allen Lebensphasen in den Mittelpunkt stellen, d.h. Bildung, Erwerbsmöglichkeiten, Betreuungseinrichtungen und ein Leben ohne Furcht vor Armut für alle garantieren. dieStandard.at: Danke für das Interview. Das Interview führte Elke Murlasits.