Henning

sieht aus wie ein kleiner, dampfender Teufel. Es ist sechs Uhr morgens, seit 24 Stunden und 900 Straßenkilometern ist er jetzt ohne Schlaf. Was ihn noch wach hält, vermag er selbst nicht zu sagen. Im Fahrerhaus brennt eine rote Lampe wie in einer Dunkelkammer. Im Aufschrecken aus sekundenlangen Träumen ist mir der kleine Fernfahrer fast unheimlich.

montage: derstandard.at

Bis jetzt fuhr wenigstens Peter,

"der Bär", vor uns her. War so müde, dass er seinen 40-Tonnen-Truck nur noch mit ruckartigen Lenkbewegungen in der Spur gehalten hat. Jetzt knarrt seine Stimme im CB-Funk: "Ich muss raus, schlafen. Für 'ne Stunde nur." Er fährt beim nächsten Rastplatz ab. Doch der Teufel neben mir sagt nur: "Hau rein!" Und fährt weiter. Unerbittlich, mit 93 Stundenkilometern, gleitet unser Sattelschlepper durch die leere Nacht. Die 360 Pferdestärken zügelt der Tempomat. Henning beschleunigt nicht, schaltet nicht, bremst nicht. Er lenkt nun auch seltener.

montage: derstandard.at

Ein sonniger Nachmittag

auf dem Hof einer Spedition in Wels, 15 Stunden zuvor. Ich treffe den Fernfahrer Henning mitten im Trubel des Verladeterminals, wo zwei Dutzend Fernlaster zur gleichen Zeit vor und zurück rangieren, wild anfahren oder quietschend zum Stehen kommen. Henning, ein zierlicher Mann Mitte dreißig, in gemustertem Holzfällerhemd und Jeans, dreht auf seinen Holzpantoffeln eine kurze Runde um mich herum, begutachtet die 73 Kilo Lebendfracht mit fröhlichen Augen. Ein Nicken. Einverstanden.

montage: derstandard.at

Auf der Skandinavienroute

Wels-Stockholm nimmt er diesmal einen Beifahrer mit. "Aber bitte ohne Schuhe" ist das Erste, was er zu mir sagt, als ich ins Fahrerhaus seines Scania-Trucks klettere. Fernfahrer haben keine Schuhe. Holzpantoffeln für draußen und eine Art Hausschlapfen für drinnen, schließlich ist das Fahrerhaus gleichzeitig Arbeitsplatz, Wohn-und Schlafzimmer. Hier nächtigt Henning sechs Tage in der Woche. Henning fährt seit fünf Jahren mit dem Fernlaster, mehr als eine dreiviertel Million Straßenkilometer. Unfallfrei.

montage: derstandard.at

Von Wels über Passau und Regensburg

bis zur Raststätte Mitterteich, nahe Hof in Bayern. Freitag, halb sechs bis halb elf Uhr abends. "Nee, schneller geht er gar nich', da regelt er selber ab, in jedem Sattelzuch", sagt Henning. Der Tachometer steht bei 90 Kilometern pro Stunde, seit wir die Grenze nach Deutschland passiert haben. "Aber er läuft 93, da hat mir der Bär 'n bisschen was eingestellt."

montage: derstandard.at

Über Niederbayern steht die rote Abendsonne still,

die Autobahn windet sich entlang der Donau Richtung Regensburg, und drei km/h erscheinen völlig unbedeutend - doch es reicht aus, schneller zu sein als die anderen Trucks. Bis uns ein irischer Lastzug voll Butter überholt: "110 Sachen. Der hat wohl die Sicherung draußen", sagt Henning. Heißt das, der irische Fahrer sei durchgedreht? "Nee, sieh mal vor dir in 'n Sicherungskasten, es ist die kleene ganz links. Die regelt das Tempo ab. Nimmste die raus, kannste fahren, was drin is'." Aber das ist nicht legal.

montage: derstandard.at

"Das mach ich nich'", sagt Henning.

Drei km/h mehr, das reicht ihm. Noch. Seinen Job will Henning nicht aufs Spiel setzen, wenngleich derlei Tricks und Manipulationen fast notwendig sind, um den Job zu behalten. Nicht, dass Henning unter seinem feinen Schnauzbart ein schüchterner Erzähler wäre. Aber von der Familie, die auf Rügen lebt und die er mit dieser Arbeit versorgt, redet er wie von etwas Rarem, fast Heiligem. Den meisten seiner Kollegen sei dies längst zerbrochen, sagt er.

montage: derstandard.at

Nach der Wende

waren er und seine Frau drei lange Jahre "zu Hause", also arbeitslos. Just damals kam ihr zweites Kind zur Welt. Um den Job fürchtet Henning, immer. Sein Chef, ein österreichischer Frächter, sagt: "Einen Fahrer find' ich allemal." Und zahlt dementsprechend: Pro gefahrenen Kilometer bekommen seine Fernfahrer 25 Pfennig bezahlt. Was monatlich 14.000 Kilometer übersteigt, wird nur noch mit je zehn Pfennig abgegolten. Wenn die Steuer abgezogen ist, bleibt ein Hungerlohn mit zarten Peitschenstrichen für die Übereifrigen, sozusagen.

montage: derstandard.at

Henning gerät darüber in Rage:

"Der Chef? Is' doch nur mit Menschenhaut überzogen. Ein Schweinehund is' das." Sein kleiner "Zusatzverdienst" liegt hinter uns in der Schlafkoje, verborgen unter einem purpurnen Baldachin: zwei Kästen Bier und zwei Flaschen Schnaps von Aldi, starker, billiger Fusel. Der Verkauf in Schweden oder besser in Norwegen, wo Hochgeistiges fast unerschwinglich ist, bringt vielleicht 50 Mark pro Woche zusätzlich ein. "Ich verkauf' an die Lagerarbeiter", sagt Henning.

montage: derstandard.at

Erste Pause,

77 Kilometer vor Hof, eine Trucker-Raststätte. Die fünf Stunden Fahrt sind schnell vergangen, Henning ist jetzt richtig munter, Henning geht duschen, dann essen wir. Es gibt eine "Truckerpfanne", Kaffee, Cola. Henning sitzt hier meist allein, scheint auf Gesellschaft auch gar nicht erpicht zu sein. Er grüßt, ohne aufzusehen, als sich drei Fernfahrer zu uns an den Tisch setzen. Geraucht wird viel, keiner trinkt, das heißt: Alle fahren weiter, vielleicht die Nacht durch.

montage: derstandard.at

Die Stimmung sackt unter den Tisch,

als ein verschmitzter kleiner Haudegen namens Dirk wissen will: "Wohin jeht die Fuhr, Henning? Peter soll Stahl mit runne nehmen, haste was jehört?" Henning antwortet kurz. "Stockholm", sagt er, aber nichts über seine Ladung, nicht hin, nicht zurück: Die Fernfahrer belauern einander, erklärt er mir später. Über die Rückfahrt wird erst in Schweden entschieden: Wer schneller am Terminal ist, bekommt die Ladung - die anderen stehen zwanzig, dreißig Stunden länger auf einem Parkplatz herum.

montage: derstandard.at

Also keine Trucker-Romantik,

kein Zusammenhalten gegen die Bosse und die Bullen? "Nee, nich' wir Fernfahrer. Nich' mehr . . .", sagt Henning auf dem Weg zurück zum Laster. "Will doch jeder zu Hause sein, wenigstens ein' Tag die Woche." Und die Blockaden, als der Sprit teurer wurde? "Du, zum Blockieren, da langen zwei und ein Funkgerät. Das is' den Fahrern doch nich' selbst eingefallen, den Sprit zahlt ja der Chef . . ."

montage: derstandard.at

Thüringen, ein Uhr früh.

Ein Stau auf der Autobahn, unerwartet zu später Nacht, kann schön aussehen. Wie eine feuerrote Schlange schieben sich tausend dampfende Automobile langsam über die weiten, sanften Hügel vor uns. Über CB-Funk spricht seit der letzten Rast der "Bär" mit uns. Der "Bär" ist Fernfahrer und arbeitet für denselben Frächter wie Henning, er fährt nach Oslo. Über Funk halten sich zwei Fahrer gegenseitig wach und sehen zu, dass der andere die Spur hält. Beides ist jetzt keine Schwierigkeit, wir stehen im Stau. Der "Bär" beklagt sich über lose Gasflaschen auf seinem Auflieger, die sich nicht festzurren lassen und "jefährlich klingen".

montage: derstandard.at

Um drei Uhr früh hat sich der Stau aufgelöst.

Henning reicht mir die Straßenkarte, ich soll seiner Streckenbeschreibung mit den Augen folgen: Wir wollen über den Berliner Ring noch in dieser Nacht bis hinauf nach Rostock, weiter in den Osten nach Stralsund und auf die Insel Rügen. Dort endlich ins Bett, dort bleiben Henning diese Woche 14, vielleicht 16 Stunden mit seiner Familie . . .

montage: derstandard.at

Im roten Licht

des Führerhauses verschwimmen die Konturen der kirschroten Schnellstraßen und Autobahnen auf der Karte. Was vor meinen Augen übrig bleibt, ist ein dichtes Netz von Äderchen und Venen und Arterien, ein einziges, verzweigtes Blutgefäß, wo alles zusammenfließt zu einem riesigen Blutgerinnsel: Berlin. Um halb fünf Uhr werden wir dort sein, aussteigen, eine halbe Stunde an einer Tasse Kaffee herumstehen. Das ist die gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit. Eine Pause nach je vier Stunden Fahrt.

montage: derstandard.at

"Zwischen zwei und fünf,

das is' mir die liebste Zeit. Aber natürlich wirste müde", sagt Henning nach unserem Aufbruch zur letzten Etappe. Vor einem Jahr hat er seinen zwölfjährigen Sohn Jan mitgenommen. Am Vormittag des nächsten Tages, nach einer Marathonfahrt, döste Henning am Volant wieder und wieder ein. "Jan is hinten gelegen, hat mich nur mehr ferngesteuert." Als sich der "Bär" über Funk meldet - "Ich muss raus, schlafen, für eine Stunde nur" - sagt der kleine Teufel neben mir nur "Hau rein!" und fährt weiter. Er will heim. An einem sonnigen Herbstmorgen kommen wir auf Rügen im Nordosten Deutschlands an.

montage: derstandard.at

Sonntagmittag geht es weiter,

auf die Fähre Richtung Schweden. Wieder eine Nachtfahrt. Frühmorgens in Stockholm lese ich die Straßenkarte falsch, lotse Henning und seinen 40-Tonner quer durch die Altstadt. Keine Ursache, meint er. Dann ein kurzer, hektischer Abschied an einer roten Ampel. Er wird mir fehlen, denke ich. Man hat eben genug Zeit, sich kennen zu lernen, wenn man eine lange Nacht auf der Straße gemeinsam verbringt. Eine Nacht, so lange wie Deutschland. (Thomas Brunnsteiner/red, DER STANDARD ALBUM, 23.2.2002) >>>

montage: derstandard.at

Mitfahrgelegenheiten

an sämtliche Destinationen in Europa lassen sich bei internationalen Speditionen erfragen. Die Zustimmung kann nur der jeweilige Fernfahrer geben. Der Abschluss einer allgemeinen Reiseversicherung ist in jedem Fall angeraten, vor Fahrtantritt sollte auch die Haftungsfrage bei Unfällen (Haftungsausschluss für den Fahrer) abgeklärt sein. Von einem Trinkgeld abgesehen, ist die Mitfahrt normalerweise kostenlos.

montage: derstandard.at