Von Josef Schneeweiß

Gleich zwei renommierte Institutionen widmen sich unserer Gegenwartssprache: die Dudenredaktion und die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS). Jochen Bär, einer der 21 Autoren, rechtfertigt dies mit dem Jahrtausendwechsel und "dem großen öffentlichen Interesse an Sprache und ihrer Geschichte", ausgelöst durch Rechtschreibreform und Vordringen des Englischen/Amerikanischen.

Bär geht in seinem umfangreichen Eröffnungskapitel "Deutsch im Jahr 2000. Eine sprachhistorische Standortbestimmung" auf Einflüsse der Gegenwartssprache ein, etwa gesellschaftliche und politische Veränderungen, Massenmedien und neue Medien sowie die kommerzielle und kommunikative Globalisierung - die erst mithilfe des Englischen bzw. Angloamerikanischen möglich wurde. Er meint, dass Laien den Sprachwandel als negativ bewerten, wenn sie ihn bewusst erleben. In diesem Kontext erscheint allerdings der Begriff "Laie" deplatziert zu sein.

Bär übernimmt die von Hans Eggers stammende sprach-historische Fünfgliederung des Deutschen: ca. 750 bis 1050 (Althochdeutsch), ca. 1050 bis 1350 (Mittelhochdeutsch), ca. 1350 bis 1650 (Frühneuhochdeutsch), ca. 1650 bis 1950 (Neuhochdeutsch) und ab ca. 1950 (bei Eggers ohne Bezeichnung) und lässt dann mit einem Vorschlag aufhorchen, für die deutsche Sprache der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine eigene Bezeichnung zu finden, nämlich E-Hochdeutsch (Ehd.). Begründung: E ist eine Variable, die verschieden gedeutet werden kann, etwa als "Deutsch im Zeitalter der elektronischen Kommunikation, Deutsch einer "emanzipierten Gesellschaft", den Einfluss "der Weltsprache Englisch" charakterisierend oder "das Deutsche im Kontext der europäischen Einigung." Bezeichnungen wie Nach- oder Spätneuhochdeutsch lehnt er ab.

Rudolf Hoberg, Vorsitzender der GfdS, wirft die plakative Frage auf: "Sprechen wir bald alle Denglisch oder Germeng?" Er begrüßt einerseits das Englische als erste Weltsprache in der Menschheitsgeschichte (das Griechische, Lateinische oder Französische wurden jeweils nur in bestimmten Regionen der Welt verwendet), plädiert jedoch andererseits für das Bewusstsein, "dass der Untergang oder auch das Zurückdrängen einer Sprache immer einen Verlust bedeutet" und zwar für die ganze Menschheit. Denn die verschiedenen Sprachen repräsentieren auch die "Welt" unterschiedlich.

Unter den 2500 bis 5000 Sprachen der Welt nimmt das Chinesische den ersten und das Englische den zweiten Platz bei den Muttersprachlern ein. Deutsch erscheint im Durchschnitt (je nach Sprachenstatistik) an neunter Stelle. In Europa rangiert Deutsch mit 90 Millionen Muttersprachlern nach Russisch an zweiter Stelle, also noch vor Französisch, Englisch und Italienisch. Horberg meint, dass das Englische aufgrund seiner Weltgeltung zu Recht auch innerhalb der EU die Spitzenstellung einnimmt und das Deutsche diese Stellung nicht verdiene, "nicht zuletzt weil es als Instrument ungeheurer Verbrechen in diesem Jahrhundert gedient hat." Merkwürdig, warum soll die deutsche Sprache mit ihrer rund eintausenddreihundert Jahre alten Tradition für die NS-Verbrechen büßen?

Hoberg hält die Übernahme von englischen Fremdwörtern für weniger problematisch als grammatische Veränderungen, wie etwa Ausklammerungen (Ich bin in die Stadt gefahren heute Morgen.) und Bedeutungsverschiebungen, etwa bei den Wörter realisieren (verwirklichen? sich bewusst machen) und kontrollieren (überprüfen? beherrschen).

Natürlich darf in einem derartigen Sammelband die Frage "Sterben die Dialekte aus?" nicht fehlen. Jürgen Eichhoff resümiert: "Dialektabbau und Dialektverlust haben in den letzten Jahrzehnten die deutsche Sprache nachhaltig verändert", insbesondere in Mittel- und Norddeutschland. Er begründet diese Entwicklung mit Beobachtungen des Wiener Germanisten Peter Wiesinger in der 70er-Jahren, wonach Eltern untereinander noch Dialekt sprechen, aber ihre Kinder bewusst in der Umgangssprache erziehen, um ihnen für die Schule bessere Chancen einzuräumen. Eichhoff ortet jedoch ein neues Interesse am Dialekt - wenn auch losgelöst vom aktiven Sprachgebrauch - in Theateraufführungen, Predigten, Gedichten und Werbetexten.

Bemerkenswert ist auch der Beitrag von Peter Schlobinski "Chatten im Cyberspace", da er sowohl konkrete Beispiele (IRC-Chat und moderierter Chat) analysiert als auch die medienspezifische Kommunikation, von Pseudonymen über die sprachliche Verschleierung bis zur Identitätsveränderung etwa beim Gender Switching, offen legt. Das nicht zu wissen, kann das Internet durchaus zu einem gefährlichen Instrument machen.

Kapitel über Fachsprachen (leider wenig anschaulich), die Jugendsprache (zentrale Aussage: es gib nicht die Jugendsprache), die Sprache in den Medien und die veränderte Rolle von Journalisten, die geschlechtergerechte Sprachverwendung sowie das Deutsch in Ost- und Westdeutschland runden die Lektüre ab.

Absicht oder nicht, kein einziger österreichischer Autor wurde eingeladen, einen Beitrag zu schreiben. Daher fehlt auch eine aktuelle Deskription der Tendenzen des österreichischen Deutsch, das nicht nur den im Buch erwähnten Einflüssen ausgesetzt ist, sondern auch vom Norddeutschen "fremdbestimmt" wird, wie der Klagenfurter Uniprofessor Alois Brandstetter zu sagen pflegt. Und dafür gibt es zahlreiche Belege, vom alltagssprachlichen "Tschüss" über "das Schnäppchen" der Werbesprache bis zum andersartigen Artikelgebrauch wie etwa "die Akte", nicht zuletzt aufgrund der norddeutschen Filmsynchronisation.

Eichhoff-Cyrus, Karin M. / Hoberg, Rudolf (Hrsg.), Die deutsche Sprache zur Jahrtausendwende. Sprachkultur oder Sprachverfall? Herausgegeben von der Dudenredaktion und der Gesellschaft für deutsche Sprache. EURO 25,70/öS 354,-/344 Seiten. Dudenverlag. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 2000.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23./24. 2. 2002)