Judith Kuckart
Lenas Liebe

EURO 23,60/ öS 324,74/ 320 Seiten.
DuMont, Köln 2002.

Foto: DuMont
Auschwitz ist der Fokus dieses Romans. In dieser polnischen Kleinstadt beginnt alles, und wenn der Roman dort einsetzt, ist eigentlich schon alles gelaufen. Der Priester, Dahlmann und Lena, die drei Personen, um die sich alles dreht, treffen hier aufeinander. Jeder steht auf seine Weise mit diesem Ort in Verbindung. Kuckart, die ein ausgeprägtes Sensorium für die unterirdischen Strömungen in menschlichen Beziehungen hat, wählt den Ort nicht zufällig. Auschwitz ist das Symbol für die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts, deshalb muss jede Person, die damit in Verbindung gebracht wird, mehr von sich preisgeben als anderswo. Die private Geschichte lässt sich nicht mehr trennen von der großen, und alles, was geschieht, findet unter dem Mahnmal des Holocaust statt. Auschwitz verrät etwas über die moralische, die geistige Verfassung, ohne dass Moral ausdrücklich ins Spiel gebracht wird. Das ist die Chance dieses Romans, dass er von Menschen, die wie Verlorene im Raum der Geschichte stehen, als Opfer ihrer eigenen Vergangenheit und der ihres Landes erzählt. Die Vergangenheit, die jeweils individuelle Biografie wie die Weltgeschichte gehen eine Verbindung ein, die niemanden in diesem Buch unberührt lässt. Von dem Augenblick an, als Lena aus Deutschland in Auschwitz eintrifft, ist sie belastet. Alles, was sie denkt, fühlt, tut, ist ohne das historische Stigma der Judenvernichtung nicht mehr zu haben. Dabei kommt Lena ohne Absicht, sich der Geschichte zu stellen, nach Polen. Sie reist im Gefolge einer jugendlichen Fußballmannschaft ein, um einen Artikel für eine deutsche Zeitschrift zu verfassen. Ein junger Mann hat es ihr angetan, mit ihm entwickelt sich eine kleine Liebe, ein Abenteuer mehr denn eine tiefe Leidenschaft. "Natürlich interessierte sie sich nicht für Fußball, aber manchmal für junge Männer, die Fußball spielen und nach dem Weichspüler ihrer Mütter riechen." Auschwitz trifft Lena wie eine Heimsuchung. Am Fußballspiel bleibt sie unbeteiligt, aber die Toten gehen ihr nach, die Toten, und wie an sie erinnert wird. "Was ist mit den Haaren in den Vitrinen, wenn es die echten Haare sind und keine Fälschung für das Lagermuseum? Wenn sie echt sind, muss man sie zurückgeben ... Sie gehören den Toten. Nicht der Ausstellung. Und eigentlich dürfen nur die Toten das Lager betreten." Mit Lena hat eine Veränderung begonnen, und keiner bleibt gleich, wenn er sich am Ende des Romans aus dem Buch verabschiedet. In Auschwitz angekommen, trifft Lena auf einen Priester, der ihr hilfreich zu Seite steht. Er dient als Widerpart, an ihm schärft sie ihren Verstand, an ihm misst sie sich. Konfrontiert mit Lena wird der Priester seiner Wichtigkeit beraubt, er verliert an Bedeutung. Er bewundert die Frau und ist gleichzeitig abgeschreckt von ihr. "Dieser Mensch, Lena", so denkt er einmal, "hat zweifellos etwas begriffen, wovon die Guten keine Ahnung haben. Hieß das, sie war böse?" Lena steht im Mittelpunkt, die anderen bekommen ihre Existenzberechtigung im Buch erst über sie. Auf Lena sind alle bezogen, die Geschichte, die ihnen zugestanden wird, ist mit Blick auf Lena und deren Geschichte erzählt. Dahlmann war der frühere Geliebte von Lenas Mutter. Nach dem Tod ihrer Mutter kehrt Lena in die Stadt ihrer Jugend zurück und mietet sich bei Dahlmann ein. Und er ist abhängig von dieser jungen Frau, kommt nicht los von ihr. Er folgt ihr nach Auschwitz, wo er während des Krieges als Sohn eines Gendarmen seine Kindheit verbracht hat. "Nie habe ich mich wieder so stolz gefühlt wie damals, als ich hier ein deutscher Junge war." Und der Priester, den Lena kennen lernt, ist ein Freund Dahlmanns. Die drei schließen sich zusammen, reisen gemeinsam nach Deutschland. Sie, die alle verloren in der Welt stehen, die wie auf Abruf in Wartestellung verharren, finden für kurze Zeit Zusammenhalt und Gemeinschaft. Was Judith Kuckart mit ihrem neuen Roman, dem besten von mittlerweile vieren, leistet, ist eine Art antianalytischer Geschichtsschreibung. Historiker entdecken einen Sinn in der Geschichte, entdecken Zusammenhänge, ziehen Schlüsse, bringen Daten, Fakten und Ereignisse unter ein sinnfälliges Dach der Vernunft. Bei Kuckart fehlt diese Theorie, der sich alle Einzelheiten unterzuordnen haben. Sie schlägt die Welt in Scherben, aus denen sich ein Ganzes nicht mehr formen lässt. Geschichte ist kein kontinuierlicher Prozess, dem sich Menschen zu fügen haben. Bei Kuckart sind Menschen sperrige Wesen, die auf Eigenart bestehen, sich nicht zähmen lassen. Sie reagieren anders, als die Vernunft des analytischen Historikers ihnen zugestehen würde. Sie brechen aus aus der Norm, sie stehen ein für das Recht auf Abweichung. Das macht das Buch zu einem verstörenden Ereignis, weil es den Menschen "eine äußere und eine innere Wirklichkeit" zugesteht. Diese beiden Welten sind nicht kompatibel, schon gar nicht, wenn so etwas wie Liebe ins Spiel kommt. Die setzt sowieso die Prinzipien der Vernunft außer Kraft. Was wissen Historiker von der Beziehung zwischen den Dingen, vom Vibrieren der Lust, wenn Menschen aufeinandertreffen, zwischen denen es knistert, von der Spannung im Raum, die entsteht, wenn jemand mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert wird? Davon schreibt Kuckart in ihrem Roman, von den Unwägbarkeiten, sich in der Zeit gegen den Ansturm der Geschichte einen Ort zu sichern. Und so mogelt sie sich nicht über Abgründe hinweg, um ein sinnfälliges, harmonisches Erzählganzes abzuliefern, sondern sie zeigt Menschen, die an den Bruchstellen ihres Seins das eigene Ich zu retten versuchen. Dies ist kein Roman, der den Leser am Ende durchatmen lässt, weil er wieder ein Stück Welt erklärt bekommen hat. So, denkt man häufig, kann man die Wirklichkeit also auch sehen. Aber bei Kuckart fehlt diese Ideologie des Bescheidwissens. Jede Figur ist ein Rätsel, alle umgibt die Aura eines Geheimnisses. Sie blicken zurück auf ein Leben, und sind dennoch nicht erklärbar. Im Spannungsfeld zwischen der Geschichte und ihren Gefühlen befinden sich Gestalten, denen nicht beizukommen ist. So ist das ein Buch, das man, wenn man es gelesen hat, nicht zu Ende gebracht hat. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23./24. 2. 2002)