Angesichts unseres Leseverhaltens wäre wieder einmal Kulturpessimismus angesagt. Das Fernsehen macht uns angeblich zu "funktionalen" Analphabeten. Möglicherweise aber muss die Krise abgesagt werden. Gelesen wird nach wie vor. Nur schneller und zweckorientierter. Die Literatur geht mit Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre in den Pop.
Von Christian Schachinger
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Benjamin von Stuckrad-Barre
Wien - Ausgehend von der Tatsache, dass die heutigen Zeiten schnell sind und Literatur das Medium der Langsamkeit schlechthin darstellt, wird wieder einmal Kulturpessimismus betrieben. Die Leute lesen nicht mehr - und wenn doch, dann häppchenweise und unreflektiert. Männer lesen zum Beispiel eher gar nicht - und wenn doch, dann auch nur die Sportergebnisse. Frauen lesen traditionell mehr und durchaus Belletristik. Hier hat sich seit dem Mittelalter wenig verändert. Laut einer Studie des Börsenvereins des deutschen Buchhandels aus dem Vorjahr greifen aber nur mehr 45 Prozent der Bevölkerung ab einem Alter von 14 Jahren überhaupt noch zu einem Buch: "Die Schere zwischen denen, die viel lesen, und denen, die nicht oder kaum lesen, öffnet sich weiter." Das führt dazu, dass wir es in Österreich laut einer Statistik des UNO-Entwicklungsprogramms anlässlich des Weltbildungstages 2001 zwar nur mit weniger als einem Prozent "echten" Analphabeten zu tun haben. Andererseits gelten drei bis vier Prozent der erwachsenen Österreicher - rund 300.000 Menschen - als "funktionale" Analphabeten. Das bedeutet, sie haben "Probleme, einen alltäglichen Text zu lesen beziehungsweise zu schreiben". In Italien, wo das Leseverhalten ungefähr deckungsgleich mit dem deutschen Sprachraum ist, hat allerdings die Tageszeitung La Repubblica mit einer jetzt gestarteten Aktion einen Coup gelandet, der der Leseverweigerung - zumindest auf dem Papier - entschieden gegensteuert. Jeden Mittwoch kann man die Zeitung für einen Aufpreis von 4,90 Euro gemeinsam mit einem Band aus der Reihe Il Novecento in 50 Romanzi ("Das 20. Jahrhundert in 50 Romanen") heimtragen. Die Idee mag zwar nicht neu sein, weil Zeitungen von Restaurantführern oder lexikalischen CD-ROMs bis zu Videokassetten mittlerweile schon mit allem Leser umworben haben. Die mit Umberto Ecos Der Name der Rose gestartete Serie mit 1,2 Millionen zum Beginn gratis beigelegten Exemplaren bescherte La Repubblica allerdings eine Auflagenverdopplung. Hermann Hesses Siddharta verkaufte daraufhin eine solide halbe Million Stück. Von Gabriel Garcia Márquez' 100 Jahre Einsamkeit musste gar eine Neuauflage gedruckt werden. Unter anderem noch in den Startlöchern: Faulkner, Böll, Bukowski, Duras ... Die Bedeutung des Lesens als klassisches Instrument der Bildung und Persönlichkeitsentwicklung mag zwar derzeit angesichts von Fernsehen und Internet eher niedrig eingeschätzt werden. Immerhin ist ja nicht gesagt, dass Bücher, die man kauft, auch tatsächlich gelesen werden. Vor Kulturpessimismus sei allerdings gewarnt. Möglicherweise ändert sich das Leseverhaltenja nicht nur in Richtung gar nicht mehr Lesen. Mit den neuen Medien hat sich das Lesen gerade bei der jungen Generation auch in Richtung "Channel-Hopping" verlagert. Lesen ist Pop Wie man anhand des Erfolgs von "Popliteraten" wie Benjamin von Stuckrad-Barre ( Soloalbum , Livealbum , Remix ...) sehen kann, die ihre Arbeit nicht umsonst an Vokabular und Produktions- wie Vermarktungstechniken der Popmusik anlehnen und Lesereisen in Clubs und nicht in Literaturhäusern multimedial vor ausverkauften Häusern gestalten, geht der Trend hin zum "schnellen Lesen" - von schnell geschriebener Gebrauchsliteratur. Schmökern ist passé. Mehrere Bücher gleichzeitig und/ oder nur ausschnittweise lesen und dies in so genannten "Zeitnischen" auf den ganzen Tag verteilt; Bücher weglegen, wenn man nicht sehr schnell etwas Verwertbares findet - das ist der Stand der Dinge. Auch dies sagt die Statistik. Ausgehend von der Tatsache, dass heute wie früher vor allem Menschen lesen, die in der Kindheit entsprechend dazu ermuntert worden sind. "Ungeduldig", "kurzzeitig", "oberflächlich": Das Fernsehen gibt die Richtung vor. Der Trend geht weg von 750 Seiten Peter Handke hin zu vier Seiten Benjamin von Stuckrad-Barre zwischendurch. Jeder Generation ihren Vatermord. Zur Not bewahrt uns ja Harry Potter vor einer drohenden Analphabetisierung. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21. 2. 2002)