Mit der Ausstellung "Impact 1902 revisited" wird in Brügge, der heurigen Kulturhauptstadt Europas, der Wiederentdeckung von van Eyck & Co. vor 100 Jahren gedacht und der Blockbuster "Jan van Eyck, die altniederländischen Maler und der Süden (1430-1530)" versucht, den italienfixierten Blick nach Norden zu lenken. Wenn die Humboldts des 15. Jahrhunderts nach der schönsten Stadt der Welt gefragt wurden, fiel ihnen nicht Konstantinopel, Neapel oder gar Salzburg ein, sondern die flandrische Handelsmetropole Brügge: Mit ihren zahlreichen Kanälen und 525 Brücken war sie nicht nur optisch, sondern auch wirtschaftlich eine Rivalin Venedigs geworden. Die glanzvolle Residenzstadt der für ihre aufwändige Selbstinszenierung berühmten burgundischen Herzöge kontrollierte den gesamten englischen Tuchhandel mit dem Kontinent. Diesen prachtvollen "Herbst des Mittelalters" beendete allerdings ein forscher Wintereinbruch: Die burgundische Elite verblutete 1477 mit Karl dem Kühnen bei Nancy, und das Versanden des Flusses Zwyn, der Verbindung zur Nordsee, durchschnitt die wirtschaftliche Lebensader der ehemaligen Boomtown. An der Schwelle zur Neuzeit war Brügge bereits eine tote Stadt. Freilichtmuseum Für Historiker und Touristen hat Brügges Glück und Ende natürlich einen unschätzbaren Vorteil: Die Zeit scheint hier seit 500 Jahren tatsächlich stehen geblieben zu sein, und man spaziert heute durch diese Stadt wie durch ein riesiges Freilichtmuseum. Freilich haben die Restauratoren des 19. Jahrhunderts kräftig mitgeholfen, dass uns Brügge heute als spätmittelalterliches Disneyland erscheint. Wachgeküsst aus dem Dornröschenschlaf wurde das Städtchen vor genau 100 Jahren aber nicht zuletzt durch die plötzliche Aktualität der Vergangenheit: 1902 initiierte Brügge mit der epochalen Ausstellung "Les Primitivs Flamands et l'Art à Bruges" die Wiederentdeckung der so genannten altniederländischen Malerei. "Primitiv" war damals im (französischen) Kunstdiskurs das Leit- und Modewort schlechthin; die ganze frühe Moderne strebte zum Ursprünglichen, Naiven und Primären. Plötzlich waren nicht mehr Raffael und Michelangelo die Leitgestirne des Kunsthimmels, sondern ihre "primitiven" Vorläufer: die Maler des Quattrocento und des burgundischen Flandern. Wie ein Fenster die Natur in die bürgerliche Stube holt Während Erstere ihren Ehrgeiz in die Bemalung von Kirchenwänden gelegt hatten, waren Letztere die Erfinder jenes Mediums gewesen, das bis heute den Inbegriff europäischer Kunst darstellt: des Gemäldes, jener bemalten Tafel aus Holz oder Leinwand, die ein Stück individuelle Wirklichkeit detailgetreu schildert, wie ein Fenster die Natur in die bürgerliche Stube holt und zugleich eine handelbare Ware ist. Burgundische Hofmaler wie Jan van Eyck und Rogier van der Weyden entwickelten und perfektionierten die adäquate Technik dafür: die Ölmalerei, mit der sich nicht zuletzt alle Arten von Stoffen, mit denen Brügge reich geworden war, täuschend echt wiedergeben ließen. Erst 1475 führte Antonello da Messina mit seinem Altarbild von San Cassiano, das sich heute in Wien befindet, die Ölmalerei nach flämischem Rezept in Italien ein. Frohbotschaft 2002 ist Brügge Kulturhauptstadt Europas, und was liegt näher, als zu diesem Anlass kräftig an die für die europäische Kunst so fundamentale Erfindung zu erinnern. Mit der Ausstellung "Impact 1902 revisited" wird im Arentshuis der Wiederentdeckung von van Eyck & Co. vor 100 Jahren gedacht, und im Groeningemuseum versucht der Blockbuster "Jan van Eyck, die altniederländischen Maler und der Süden (1430-1530)" den italienfixierten Blick nach Norden zu lenken. Denn die Schau enthält nicht nur die Hauptwerke des Brügger Malerstars und seiner Nachfolger, sondern u. a. auch Werke der von diesen Beeinflussten wie Antonello da Messina, Giovanni Bellini und Pedro Berruguete. Die belgische Botschaft an die südlichen Nachbarn ist klar: Ihr mögt mit eurer Renaissance vielleicht die Antike wieder entdeckt haben, aber das Medium, in dem der neuzeitliche Individualismus und Kapitalismus ganz zu sich gekommen sind, das hat Europa von uns. (Anselm Wagner/DER STANDARD/SPEZIAL, Print-Ausgabe, 19.02. 2002)