Asien & Pazifik
Kaschmir: Harte Fakten, vage Visionen
Mehr als 270 Tote in einem Monat allein im Kaschmir-Tal - Für eine politische Lösung des Konflikts gibt es kaum Ansatzpunkte
Srinagar/Jammu - Es gibt einen
Moment, wo auch der hartgesottenste Separatist aus dem
Kaschmir-Tal die politischen
Realitäten anerkennt: Kaschmir, Indien, ist groß auf die
islamisch-grünen Reisetaschen gepinselt, mit denen
sich die Pilger am Flughafen
Srinagar in die - von der indischen Regierung subventionierten - Flüge nach Mekka
einchecken. Unter ihnen mögen Kaufleute sein, die sich
am 5. Februar dem in Pakistan
eingehaltenen "Kaschmir-
Tag" mit einem Streik angeschlossen haben. Laut
kaschmirischen Medien kam
es dabei zu Übergriffen der indischen Armee, die die
Kaschmiris zwingen wollten,
ihre Geschäfte aufzusperren.Vertriebene Hindus
Zivile Opfer anderer Art in
einem Flüchtlingslager bei
Jammu, der Winterhauptstadt
des Staates Jammu & Kaschmir, eine halbe Flugstunde
von Srinagar: Ein paar Tausend Hindu-Flüchtlinge aus
dem Kaschmir-Tal leben hier
in stallähnlichen Räumen.
Nur das nackte Leben haben
sie gerettet, als sie, so erzählen
sie, von islamistischen Militanten vertrieben wurden.
Nach indischen Angaben
mussten mehr als 300.000
Hindus ihre Heimat verlassen.
Den Traum von der Rückkehr
haben sie nicht aufgegeben:
Ein hinduistisches "Homeland" im Kaschmir-Tal solle
man ihnen geben, sagen sie
der Reporterin.
Bislang 273 Tote
Derzeit stehen die Chancen
für eine Rückkehr schlecht:
Die neueste offizielle Statistik
spricht von 273 Toten im Tal
im Jänner, wobei mehr Militante (173) und weniger Zivilisten (70) als im Jänner 2001
getötet wurden. Die Einsicht,
dass es so nicht weitergehen
kann, ist das Einzige, was die
Lager verbindet.
Abdul Ghani Bhat, Chef der
separatistischen 23-Parteien-
Koalition Hurriyat, legt in seinem Büro in Srinagar einen
emotionalen Auftritt hin: Ein Referendum in ganz Kaschmir
(einschließlich des pakistanischen) sei ein unveräußerliches Recht, die Umwandlung
der "mit Blut durch die Herzen
der Menschen gezogenen"
Waffenstillstandslinie in eine
Grenze kommt für ihn nicht
infrage. Aber dann: Wenn Pakistan, Indien und die Kaschmiris als wichtigste Partei eine
Lösung finden, werde man
diese akzeptieren, sagt Bhat.
Und dass diese weder in einem Anschluss an Pakistan
noch in der Unabhängigkeit
bestehen wird, weiß der alte
Haudegen ganz genau.
Während ein Vertreter der
in Delhi regierenden BJP von
Premier Atal Behari Vajpayee
am Freitag in Jammu verkündete, Indien müsse den 1947
an Pakistan verlorenen Teil
Kaschmirs wieder zurückerobern, wird anderswo kühler gedacht. Die Anerkennung
der Waffenstillstandslinie
gleichzeitig mit einer Autonomieerweiterung hat die in
J&K regierende Nationalkonferenz (NC) von Chefminister
Faruq Abdullah aufs Tapet gebracht. In Wahrheit ist die
Idee so alt - 31 Jahre - wie die
LoC (Line of Control) selbst.
Geschickter Schachzug
Der in Srinagar als Vasall
Delhis geltende Abdullah ist
soeben dabei, die Partei an
seinen Sohn zu übergeben:
Omar Abdullah, derzeit Vizeaußenminister in Delhi (die
NC ist ein Koalitionspartner
der BJP-Regierung), gilt als integer und tüchtig. Die Hofübergabe sei ein geschickter
Schachzug vor den Wahlen in
J&K im Herbst, sagt der Chefredakteur von Daily Excelsior
in Jammu, S.
D. Rohmetra.
Die Preisfrage, wer die
Kaschmiris repräsentiert, die
Nationalkonferenz oder Hurriyat, wird bei den Wahlen
nicht gelöst werden, denn
Hurriyat wird sie boykottieren. Dass die muslimisch dominierte Koalition keinesfalls
für die 65-Prozent-Hindu-
Mehrheit in Jammu sprechen
kann und auch nicht für die
Buddhisten in Ladakh (der im
Namen unterschlagene dritte
Teil von J&K), ist klar.
Die Idee, dass man J&K
dreiteilen und das Problem
damit auf das sunnitische
Kaschmir-Tal reduzieren
könnte, lehnt Delhi strikt ab. (DER STANDARD Print-Ausgabe, 12.2.2002)