Panorama
Slave to the Datum
Parallelfeiern brauchen keinen Opernball
Wien - Das Schöne an wiederkehrenden Anlässen ist, dass
sie auch noch im Kalender
stehen, wenn die Generationen, die deren ursprünglichen
Sinn noch kannten, längst dahingegangen sind. Doch während altvaterische Spaßverderber bei Traditionen wie
Weihnachten, Opernballdemonstration oder dem Wurzelziehen ohne Taschenrechner immer darauf hinweisen,
dass es auf die Frage "warum
eigentlich?" angeblich auch
heute noch gültige Antworten
gibt, ist Abfeiern in einer auf
Eventismus und Party abgestimmten Gesellschaft längst
Selbstzweck: Da ist ein Tag im
Kalender rot angestrichen -
heißa, machen wir doch ein
Fass auf.
Und so wird mit schöner
Regelmäßigkeit am Tag des
Opernballes parallelgefeiert.
Angeblich auch "dagegen".
Egal: auf alle Fälle intensiv.
Daran, dass der "Ball des
schlechten Geschmack's"
einmal eine künstlerische
Antwort auf die Fracksauna
im Opernhaus gewesen sein
will, erinnert heute allerdings
nichts mehr - abgesehen vom
Schauspieler Hubsi Kramar,
der vor zwei Jahren als Adolf
Hitler in die Oper marschierte.
In ebenjener Adjustierung saß
Kramar heuer zwischen fröhlichen Menschen in bunten
Klamotten auf einem sehr lustigen, geradezu klassisch-
wienerischen Gschnas im
Theater im Rabenhof. Die Zufälligkeit des Festnamens
(eben "Ball des schlechten Geschmack's") suchte die Kür
des "geschmacklosesten" der
eigentlich auch klassischen
Faschingskostüme (dicke Superhelden, zahnlückige Prinzessinnen und allerlei Halbweltler) zu rechtfertigen.
Auch im U4, wo der längst
traditionelle, schrill-glamouröse "Rosenball" der "Heaven
Gay Night" über die Bühne
ging, war der Opernball nur
noch ein Witz am Rande: in
einer Video-Grußbotschaft
konnten sich Dagmar Koller
und Helmut Zilk nicht entscheiden, welchen der Bälle
sie aufsuchen sollen - und
fuhren zum Flughafen.
Eine, die vor Jahren - als
Lugner-Gast - diese Frage in
der Oper sehr rasch mit "Rosenball" beantwortete, war am
Donnerstag ebenfalls in Wien:
Grace Jones brachte die Volksgartendisco zum Kochen. Angeblich nur zufällig am Balltag. Aber: Jeder ist der Sklave
irgendeines Rhythmus.(Thomas Rottenberg, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9.2.2002)