Mensch
Das Phänomen Intersexualität
Eines von 2.000 Neugeborenen hat kein exakt bestimmbares Geschlecht
Lübeck - Das Phänomen ist wenig bekannt, doch keineswegs eine
Seltenheit: Bei einer/m von 2.000 Neugeborenen lässt sich das
Geschlecht nicht genau bestimmen. MedizinerInnen nennen dies
Intersexualität. Oft werden die Kinder sehr früh operiert, um aus
ihnen ein Mädchen oder einen Buben zu machen. An der Medizinischen
Universität Lübeck beschäftigen sich WissenschafterInnen seit zehn Jahren
intensiv mit Intersexualität. In einem von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft mit 1,5 Millionen Euro (20,6 Mill. S)
geförderten Projekt sollen jetzt Ursachen und Folgen exakter erkundet
werden.Menschen wie du und ich
"Intersexualität hat nichts mit Homo- oder Transsexualität zu
tun", betont Projektleiter Olaf Hiort. Transsexuelle seien biologisch
eindeutig Mann oder Frau, bei ihnen sei jedoch die
Geschlechtsidentität gestört. "Intersexuelle dagegen haben eine echte
biologische Auffälligkeit. Ansonsten sind sie Menschen wie du und
ich. Sie fallen nicht als schrille Vögel auf, sondern versuchen, ein
normales Leben zu führen", erklärt Hiort. Besonders problematisch
seien bei ihnen jedoch sexuelles Erleben, PartnerInnenschaft und
Kinderwunsch.
Über die Entstehung solcher Abweichungen von der normalen
Entwicklung zu Mann oder Frau weiß die Wissenschaft bisher folgendes:
Bei der Befruchtung wird zwar das Kerngeschlecht festgelegt - zwei
X-Chromosomen stehen für weiblich, ein X- und ein Y-Chromosomen für
männlich. Doch in den ersten sechs Wochen tragen alle Feten die
Anlagen für beide Geschlechter in sich. Erst danach reiften entweder
Eierstöcke oder Hoden heran, die wiederum geschlechtsspezifische
Hormone bildeten und so die Entwicklung zum Mädchen oder Buben
steuerten, erläutern die MedizinerInnen.
Grundlagen der Geschlechtsentwicklung
Nach ihren Angaben ist inzwischen eine Vielzahl von "Störungen"
bekannt, die diesen "normalen" Ablauf beeinträchtigen. Besonders häufig
komme die so genannte Androgenresistenz vor. "In diesen Fällen
handelt es sich genetisch um ein männliches Individuum, das im
Mutterleib auch embryonale Hoden bildet, die männliche
Geschlechtshormone ausschütten", erklärt Hiort. Die Hormone jedoch
würden von den Körperzellen blockiert und blieben daher wirkungslos.
In der Folge entwickelten sich äußerlich weibliche Kinder, bei denen
im Bauchraum aber keine Eierstöcke, sondern haselnusskleine Hoden
angelegt seien.
Die Lübecker WissenschafterInnen wollen nun die biologischen Grundlagen
der "normalen" und der "abweichenden" Geschlechtsentwicklung genauer
untersuchen. "Für Jugendliche und Erwachsene ist es wichtig, die
Ursachen für ihre Andersartigkeit zu kennen und die medizinischen
Abläufe zu verstehen", betont die Forscherin Ute Thyen. Denn oft
seien erwachsene Menschen mit Intersexualität wegen ihrer
Vergangenheit sehr über die eigene Identität verunsichert.
Häufiger zu Mädchen operiert
Bis vor wenigen Jahren sei es noch üblich gewesen, betroffenen
Kindern so wenig wie möglich über sich zu erzählen: "Eine
korrigierende Operation, bei der das Geschlecht durch Chirurgenhände
festgelegt wurde, wurde so früh wie möglich durchgeführt, damit die
Kinder sich später nicht mehr an den Eingriff erinnerten", berichtet
Thyen. Doch dabei werde ignoriert, dass die Betroffenen ständig mit
dem Gefühl leben müssten, ihnen werde etwas verheimlicht. Zudem
würden sie mit der Operation in eine Geschlechterrolle gedrängt, die
ihnen später zum Teil zur Last werde.
Nach Angaben der ExpertInnen werden Säuglinge bei Intersexualität
wesentlich häufiger zu Mädchen operiert, da sich damit kosmetisch und
funktionell bessere Ergebnisse erzielen lassen. "Ob das auf Grund der
hormonellen Situation jedoch immer die richtige Entscheidung ist,
lässt sich bezweifeln", betont Thyen. Denn bei vielen zu Mädchen
operierten Intersexuellen werde später der Wunsch laut, künftig als
Junge zu leben und sich wieder operieren zu lassen. Einige Betroffene
forderten daher, chirurgische Eingriffe so lange zu verbieten, bis
klar sei, ob sich die/der Betroffene in Richtung Junge oder Mädchen
entwickle.
Jeder Fall sehr individuell und persönlich
An der Medizinischen Universität in Lübeck wurden bisher mehr als
1.200 Betroffene oder deren Angehörige untersucht, beraten oder
behandelt. Jeder Fall sei sehr individuell und persönlich, und in
jedem Fall müsse nach einer maßgeschneiderten Lösung gesucht werden.
Neben den verschiedenen Möglichkeiten einer Operation an den inneren
und äußeren Geschlechtsorganen sei auch eine rein hormonelle
Behandlung denkbar, betont Thyen: "Und oft reicht es aus, die
PatientInnen über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Vielen hilft es
schon, wenn wir ihnen sagen können, dass sie nicht allein sind mit
ihrem Problem, dass es andere Betroffene gibt." (APA)