Die Versuchung liegt nahe, die Geschehnisse der heimischen Politik in den vergangenen Tagen als eine perfekte Inszenierung mit entsprechender Rollenverteilung zu werten. Da ist zum einen die ÖVP in der Rolle der vernunftbetonten Europapartei. Sie demonstriert viel Verständnis für die Krämpfe der blauen Mitspieler, die sich nach dem Temelín-Volksbegehren austoben mussten. Eigentlich sollte die Toberei schon am ersten Tag nach dem mäßigen Erfolg des Begehrens beendet sein, wäre da nicht der zornige große Bruder gewesen, der sich ständig mit Zwischenrufen bemerkbar machte. Also durfte er wieder einmal an die Rampe treten und sich gehörig ausschimpfen, um die eigene psychische Befindlichkeit wieder ins rechte Lot zu bringen. Nach der großen Inszenierung der koalitionären Aufregung kam es zur Pause. Im zweiten Akt gab man die Versöhnung, wobei der störende Zwischenrufer mit einem vorläufigen Auftrittsverbot belegt wurde.Womit der Vorhang vorerst zu ist und alle Fragen offen sind. Denn wie ist es zu verstehen, dass Bundeskanzler Wolfgang Schüssel im Versöhnungsakt dem Partner zugestanden hat, dass mit einer neuen tschechischen Regierung wieder "Gespräche" über Temelín geführt werden, obwohl bis dato die ÖVP-Linie gelautet hat, nach den Brüsseler Gesprächen sei das nicht mehr möglich? Daran, so die ÖVP bis Donnerstag, werde auch eine neue Regierung in Prag nichts ändern. Wie erklärt es sich, dass die daneben sitzende Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer von "Verhandlungen" mit der neuen tschechischen Regierung gesprochen hat, und zwar mit dem Ziel einer Nullvariante für Temelín? Wie lässt sich der Widerspruch bei den Benes-Dekreten auflösen? Die ÖVP ist wie bei Temelín gegen eine Vetodrohung, ein nicht unwichtiger Teil der FPÖ will die Aufhebung der Dekrete gerade damit verknüpfen. Mit spannenden Aufführungen im Koalitionstheater ist weiter zu rechnen. (DER STANDARD, Print, 25.1.2002)