Istanbul - Mit der Verfassungsreform vom vergangenen Herbst hatte die nach EU-Mitgliedschaft strebende Türkei einen großen Wurf hingelegt, der auch in Brüssel mit Wohlgefallen aufgenommen wurde. Als weitaus dorniger erweist sich der Weg bei den vielen kleinen Schritten, die nötig sind, um die bestehenden Gesetze, etwa die Beschränkungen der Meinungsfreiheit, den neuen Vorgaben anzupassen. Gleich um das erste Reformpaket, das die Drei-Parteienkoalition unter Ministerpräsident Bülent Ecevit dem Parlament zugeleitet hat, ist in der türkischen Öffentlichkeit ein heftiger Streit entbrannt. Kritik erntet das "Mini-Demokratisierungs-Paket" vor allem wegen der geplanten Änderungen der Strafgesetz-Paragrafen 312 (Volksverhetzung) und 159 (Beleidigung und Verunglimpfung des Staates und der Streitkräfte), die nicht nur von der islamistischen Opposition, sondern auch von der liberalen Presse als Rückschritt gegenüber dem Bestehenden heftig angegriffen werden. So sollen Äußerungen künftig bereits als Volksverhetzung verfolgt werden, wenn nur die "Möglichkeit" besteht, dass dadurch die öffentliche Ordnung gestört wird. "Demokratie-Lüge" befand die Zeitung "Radikal". Unter diesen Umständen sei es besser, dass gar kein neues Gesetz herauskomme. Für Enttäuschung bei den Kritikern sorgte auch, dass der Kreis derer, die nicht beleidigt oder verunglimpft werden dürfen, eher noch ausgeweitet statt eingeschränkt werden soll. Der Entwurf zählt auf: das Türkentum, die türkische Nation, den türkischen Staat, das Parlament, den Ministerrat, die Justiz, die Streit-, Sicherheits- und Ordnungskräfte "oder Teile davon". Als "Hardliner" in der Regierung Ecevit tritt auch in dieser Frage der Vorsitzende der Nationalistischen Bewegungspartei (MHP), Devlet Bahceli, hervor. "Für uns gehört das Propagieren von Separatismus und das Anstiften zum Aufruhr nicht zu den Freiheiten einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft", konterte Bahceli. Mit seiner Partei seien Änderungen, die diese Paragrafen "ihres Inhaltes entleeren", nicht machbar. Kritik von Koalitionspartner Massive Kritik an dem gemeinsamen Gesetzentwurf übt dagegen der dritte Koalitionspartner, die von Vize-Regierungschef Mesut Yilmaz geführte national-liberale Mutterlandspartei (ANAP). Die geplanten Änderungen im Strafgesetzbuch führten die Türkei "nicht zu einem Rechtsstaat, sondern zu einer despotischen, totalitären, autoritären Staatsordnung", sagte der ANAP-Parteivize Erkan Mumcu. In ihrer bestehenden Form entsprächen die Paragrafen 312 und 159 weitaus mehr den EU-Standards. Um die Chancen für einen EU-Beitritt, den sich Yilmaz spätestens für 2008 erhofft, zu vergrößern, treten er wie auch Ecevit für eine völlige Abschaffung der seit 1984 in der Türkei nicht mehr vollstreckten Todesstrafe ein. Widerstand kommt auch hier von der nationalistischen MHP, die auf keinen Fall darauf verzichten will, den auf der Gefangeneninsel Imrali inhaftierten Führer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, hinzurichten. Die Verfassungsreform hatte die Todesstrafe nur eingeschränkt. Sie gilt weiterhin für Kriegszeiten und terroristische Delikte. (APA/dpa)