Wien - Das Aufhebungs- und Einstellungsgesetz von 1945 "war sozusagen totes Recht", sagt Walter Manoschek. Der Politologe vom Institut für Staatswissenschaft an der Uni Wien ist seit Anfang 2001 dabei, es mit Leben zu füllen: mithilfe der Biografien der österreichischen Opfer der NS-Militärjustiz. Sie waren als Kriegsdienstverweigerer, Deserteure oder "Wehrkraftzersetzer" verurteilt worden - und wurden nach der Befreiung nicht rehabilitiert.Denn das Gesetz vom 3. Juli 1945 über die "Aufhebung von Strafurteilen und die Einstellung von Strafverfahren" verlangt die Prüfung jedes einzelnen Falles. Diese können Betroffene beantragen, oder sie muss von Amts wegen beginnen. Bis Mitte der 90er-Jahre war das Gesetz aber nie zur Anwendung gekommen, erst dann wurden die ersten Zeugen Jehovas, die wegen Kriegsdienstverweigerung von den Nazis bestraft worden waren, rehabilitiert. Doch der Staat suchte lange Zeit nicht selbst - amtswegig - nach Opfern, denen er die Ehre hätte wiedergeben können. Diese Aufgabe haben Manoschek und seine fünf Mitarbeiter übernommen. Sie können nun die Halbzeitbilanz ihres zweijährigen Forschungsprojekts ziehen, das vom Wissenschaftsministerium mit rund 218.000 Euro (drei Millionen Schilling) ausgestattet ist. Es geht auf einen Entschließungsantrag des Nationalrats vom Juli 1999 zurück. Alle Fraktionen außer der FPÖ hatten damals gefordert, die pauschale Aufhebung sämtlicher Urteile der Nazi-Militärgerichtsbarkeit gegen Österreicher zu prüfen. Doch dazu, so die Meinung, müsse man erst einmal die Opfer und die Hintergründe der Verurteilungen kennen. Nun wälzen Manoschek und seine Mitarbeiter Urteile, führen Interviews, gleichen Papiere ab. Im Prager Militärarchiv liegen 15.000 Akten des Reichskriegsgerichts, im deutschen Bundesarchiv weitere 200.000 Akten von Kriegsgerichten, im österreichischen Staatsarchiv die Kriegsgerichtsakten der Wehrmachtsdivision 177, die in Wien stationiert war. Schwierig sei, so Manoschek, die Österreicher unter den Verurteilten herauszufiltern. "In unserer Datenbank haben wir bisher rund 2300 österreichische Militärjustizopfer erfasst", sagt der Zeitgeschichtler. Bei den Meldeämtern habe die Suche mit einer Liste von 800 Namen zum Auffinden von 56 noch lebenden Opfern geführt. 20 hätten sich bei den Wissenschaftern gemeldet, nur sechs waren schließlich bereit, ein Gespräch über ihr Schicksal zu führen. Warum so wenige? - "Angst vor sozialer Ächtung", sagt Manoschek und bittet Betroffene, sich zu melden. Angst vor Ächtung Gerade unter den Deserteuren gebe es Verurteilte, die nicht einmal ihrer Familie von ihrem Schicksal erzählt hätten. Dabei zeigt schon die Statistik, dass es bei der NS-Militärjustiz nicht mit (ge)rechten Dingen zugegangen sein kann: 30.000 Todesurteile warfen die Kriegsgerichte aus, über 20.000 wurden vollstreckt, 25.000 wurden wegen Desertion oder Wehrkraftzersetzung erlassen, erläutert Manoschek. Die USA hätten demgegenüber im Zweiten Weltkrieg nur ein Todesurteil vollstreckt, die Briten keines. Und dann weist der Politologe auf noch eine Unstimmigkeit hin: Wenn Österreich Hitlers erstes Opfer war - wie können dann Österreicher, die nicht für Hitler kämpfen wollten, Vaterlandsverräter sein? (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22. 1. 2002)