Eines dürfte ziemlich klar sein: der Mann hat endlich sein Lebensthema gefunden. Nachdem sich James Ellroy, der auf jeden Fall auch laut eigener Einschätzung größte zeitgenössische amerikanische Schrifsteller, jahrelang geweigert hatte, das Thema auch nur anzustreifen, war nach der Lektüre von Don DeLillos 1988 erschienenem Roman Sieben Sekunden der Grundstein für eine der wahnwitzigsten Trilogien der Literaturgeschichte gelegt. Wo DeLillo auf knapp 600 Seiten in weiten Bahnen das Leben des Kennedy-Attentäters Lee Harvey Oswald umkreist und dabei sämtliche Verschwörungstheorien zum Thema weidlich ausschöpft, holt Ellroy als früherer Großmeister der Hardboiled-Szene (Die schwarze Dhalie, White Jazz, Stiller Schrecken . . .) 1995 als neuer Stern am Verschwörungstheorie-Himmel mit Ein amerikanischer Thriller noch weiter aus.Schon in diesem ersten Teil der nun mit Ein amerikanischer Albtraum fortgeführten und laut Plan 2006 mit Underworld U.S.A. zum Abschluss gebrachten Trilogie bevölkert Ellroy seine aus einer wilden Mischung aus Fiktion und historischer Faktenlage auf 800 Seiten mit korrupten und dauergeilen Politikern, verbrecherischen Geheimdienstleuten oder historischen Figuren wie FBI-Chef J. Edgar Hoover, dessen homosexuelle Neigungen und enge Mafiakontakte genüsslich ausgebreitet werden. Vertreter des Mob kommen ebenso vor wie der berüchtigte Hollywoodproduzent Howard Hughes. Wir schauen beim Ku Klux Klan vorbei, treffen jede Menge üble und zu allem entschlossene, von der US-Regierung wie auch von den Syndikaten unterstützte "antikommunistische Widerstandskämpfer". Diese wollen Fidel Castro auf Kuba stürzen, um aus der Karibikinsel wieder jenes steuerfreie Glückspielparadies und Bordell zu machen, wie es vor der Revolution unter General Battista existierte. Wir erleben das Debakel in der Schweinebucht - und am Ende des ersten Teils haben wir nicht nur erfahren, dass JFK ein chronisches Rückenleiden hatte, sondern wegen seines Tempos in sexuellen Angelegenheiten auch gern der "Zweieinhalb-Minuten-Mann" genannt wurde. Am Ende von Ein amerikanischer Thriller steht dann das Attentat in Dallas. Von diesem hören wir aber, wie generell von der "großen Politik" ganz beiläufig. Die Protagonisten der Trilogie, wie etwa der ehemalige FBI-Agent Ward Little, der nun für die Mafia arbeitet oder Ex-Polizist Pete Bondurant, der sich als Killer verdingt, erfahren vom Attentat, in das sie mittelbar verstrickt sind, so wie der Leser nebenbei aus Fernsehen oder Radio. Die Ausführung selbst überlässt man vorgeschobenen Idioten. Ein amerikanischer Albtraum, wieder üppig auf über 840 Seiten angelegt, setzt unmittelbar nach dem Attentat auf JFK ein. Als neu hinzu gekommenen Antihelden lernen wir Wayne Tedrow Jr. kennen, einen Polizisten mit mächtigem Vater in Las Vegas. Wayne bemüht sich wie viele der Akteure bei Ellroy zwar, Gutes zu tun - oder versucht sich zumindest trotz aller den Zweck heiligenden, verbrecherischen Mittel einzureden, damit einem höheren Ideal zu folgen. Wie sonst soll man sich als Polizist, der in seiner Freizeit für die Mafia als Geldeintreiber arbeitet, auch rechtfertigen, wenn man 1964 in den Heroin-Küchen von Saigon dafür sorgt, dass die bald eintreffenden US-Truppen mit entsprechend guter Ware versorgt werden? Allerdings wird auch er sich hilflos in diesem monströsen Sittenbild aus Verbrechen ohne Reue und Schuld ohne Sühne verstricken. Am Ende lässt "man" Dr. Martin Luther King erschießen: Von Ellroys beim Sensationsjournalismus entlehnter, knapper und atemloser Subjektsatzprache ist man schon vorher fertig; Teil eins titelt im Original American Tabloid. Ach ja, selbstverständlich hätte "man" zur Not von Luther King auch heimlich aufgenommenes, pornographisches Filmmaterial zur Verfügung gehabt, um ihn mittels Erpressung zum Schweigen zu bringen. Diese Welt ist vollkommen verkommen. Manchmal wirkt dieser Wahnsinn wahrhaftiger als die Wahrheit. Die kennt sowieso niemand. "Sie hörten einen Schuss einschlagen. Sie sahen rotes Blut auf schwarzer Haut. Wayne sah die Wirkung. Wayne sah das Blut aus dem Nacken spritzen. Wayne sah, wie King zu Boden ging." Der unbarmherzigste US-Schriftsteller ist James Ellroy auf jeden Fall. Teil drei wird uns übrigens mit Richard Nixon ins Watergate Hotel führen. (DER STANDARD, ALBUM, 19.01.2002)