Bitte um Ruhe. . . Pssst . . . (für einen Moment nur)! Denn ansonsten könnte es passieren, dass man am Wintermärchen von Zagorsk glatt vorüberhastet. Wegen der Hundskälte etwa, die einen antreibt und im Stile von russischen Bären und KGB-Folterknechten in die feuerroten Ohren und Backen beißt. Die Deckung einer windgeschützten Mauernische hilft in solchen Sekunden fürs Erste weiter. Ferner solide Fäustlinge vom Typus Kosmonautengreifer; und natürlich ein Paar flauschig dicker, nach Landesart über die Ohren gezurrter Zobelbäuche, die auch das grimmige Heulen der Winterwinde schlucken.

Klöster und Kathedralen in Zagorsk

Und das ist gut so - schließlich würde der Zauber des Moments durch jedes Geräusch nur verlieren. Lautloser, himmlischer Schneewalzer ist nämlich gerade angesagt zwischen den goldglänzenden Zwiebeldächern der Zagorsker Klöster und Kathedralen. Leise betupfen die dichten Flöckchen die feinen Birkenstämmchen und abblätternden Lattenzäune des nahen Klostergartens und senken sich als dicke, weiße Decke über Kieswege, verwaiste Rote-Rüben-Beete und die kyrillisch gekritzelten Dankesschreiben von Pilgern aus Yaroslavl, St. Petersburg und Wolgograd.

Operettenhaft schieben sich die Umrisse von russischen Archetypen durch den Schneeflockenvorhang: rundliche Frauen mit giftgrünen Kopftüchern etwa, die für die am Eingang verhökerten Matrojschka-Holzpuppen Modell stehen könnten, und rotgesichtige, Wodka-gezeichnete Bauern. Saatkrähen flattern über die angezuckerten Höfe und Vorplätze der Zagorsker Zwiebeldächer: schwarz verwischte Kleckse, die von den fein geäderten Baumkronen auf die langen, wehenden Kleider und weißen Rauschebärte der Popen herabschielen. Gemeinsam mit über hundert Mönchen bereichern nämlich auch diese Zagorsks ultrarussisches Panoptikum und sorgen hier für dicke Weihrauchschwaden und sonoren Liturgie-Soundtrack.

Dass am vereisten Parkplatz auch der eine oder andere verchromte Luxusschlitten vorrollt, mit privatem Blaulicht statt Schellengebimmel, kann am märchenhaften Reiz der winterlichen Szenerie nichts ändern. Im Gegenteil: Irgendwie gehören nämlich auch die feuchten, kalten Augen der Moskauer Money-Men, die hier am stilgerechtesten für die Vergebung ihrer Sünden beten, zum großen russischen Seelenstriptease dazu.

Spirituelles Zentrum und Zentrum des nationalen Widerstandes

Und das gilt wohl auch für die pampigen Staatsdiener-Visagen der Zagorsker Museumswärter. Im Halbdämmer des angrenzenden Museums, auf ihren durchgewetzten Sitzpölstern scheinbar festgeschraubt, wachen sie über alte Ornate und gleißende Klosterschätze. Und wohl auch über die eigenen, goldblinkenden Eckzähne. Landeskenner und gelernte Moskowiter verwundert diese Überdosis an russischem Lokalkolorit kaum. Immerhin gilt der 75 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegene Ort, der nach der Wende wieder Sergiev Possad genannt wird, seit der Gründung des Dreifaltigkeitsklosters des Hl. Sergius im Jahre 1340 als spirituelles Zentrum des Landes - und als Ort des nationalen Widerstandes. Schon während der Zeit der Tartarenstürme und späterhin gegen die Polen fungierte er als wehrhafter Bauklotz.

Zagorsk war dabei zugleich auch sakrosanktes Glied einer ganzen Kette von geschichtsträchtigen Stätten, die im Nordosten Moskaus und in jeweils 80-km-Etappen angelegt worden waren. Eine Distanz, die Russlands Kutschern einst solide Achtstunden-Arbeitstage bescherte - und heutigen Besuchern einen unvergesslichen Trip ins Zentrum der russischen Seele.

Goldener Ring

Mühelos ließe sich dieser um weitere ehemalige Außenposten des alten Kiewer Reiches - bekannt als Goldener Ring - ergänzen. Die pittoreske Museumsstadt Suzdal oder die ehemals prosperierenden Handelsniederlassungen Pereslavl-Zalesska, Yaroslavl oder Vladimir locken bis heute mit Holzkirchen und Kaufmannspalästen aus dem 16. und 17. Jahrhundert - und erinnern so besonders schön an das alte zaristische Russland. Oder aber an Dostojewski im Wunderland. Denn unterwegs flitzen neben obskur aufgebockten Panzer-Denkmälern und Supermärkten, die wie angelaufene Aquarien mit wasserstoffblonden Nixen aussehen, auch zahllose traditionelle Dörfer vorbei. Oasen aus bunten Holzhäuschen, in denen man hagere, bärtige Typen vom Schlage der Brüder Karamasow vermuten möchte. Weiße Spitzenvorhänge, ein üppiger Fenstergarten aus sprießenden Eisblumen, und dahinter eine leise Ahnung von blinkenden Samowaren, heißem Punsch und russischem Tee.

Kloster Neu Jerusalem

Unterwegs nach Neu Jerusalem, einem weiteren traditionellen Ausflugsziel nordöstlich von Moskau: Schneematsch, bettelnde Kinder an den Kreuzungen der Ausfallstraßen - und vierzig Kilometer weiter die goldenen Kuppeln des Klosters Neu Jerusalem. Herrlich liegt diese Anlage des Patriarchen Nikon seit dem Jahre 1656 am Flussufer der Istra. Grün glasierte "Pfauenaugen"-Keramikfliesen und die vielen Fenster einer spektakulären Rotunde glitzern in der Sonne. Vom Dampf im sechs Meter unterirdisch liegenden "Felsengrab" der Neu Jerusalemer Auferstehungskirche, der Brillen und Kameralinsen beschlägt, ist in der klaren, kalten Luft nicht viel zu ahnen. In unmittelbarer Nähe knarren die Uralt-Bretter einer kleinen Holzkirche und es schnarrt eine historische Windmühle. Kids in Pudelmützen testen an einer Böschung auf Kunstdünger-Plastiksäcken perfekte Linkskurven. Kein Wunder, dass sich in den verschneiten Kiefernwäldchen längs des Goldenen Rings auch Russlands Adelige und Künstler stets wohl fühlten. Das am Weg Richtung Neu Jerusalem liegende "Moskauer Versailles" Archangelskoje - zum klassizistischen Schloss aus dem 18. Jahrhundert gehört auch ein 14 Hektar großer italienischer Renaissancepark - gilt dabei als eindrucksvollstes Beispiel der großzügig gestalteten "Landhäuser".

Künstlerkolonie Abramtsevo

Charmanter und entschieden uriger ist freilich die knapp vor Zagorsk gelegene und ehemals, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, florierende Künstlerkolonie Abramtsevo. Maler und Bildhauer bewohnten hier die bis heute gut erhaltenen Holzvillen, und der legendäre Musiker Schaljapin gab zwischen feinen Kachelöfen sein Debüt. Doch zuletzt führten die inspirierenden Schlittenfahrten durch verschneite Wälder, genauso wie die Künstlerkarrieren, doch meist zum dicken Ende des Goldenen Ringes - nämlich nach Moskau selbst. Info: Moskau und Umgebung fällt in den Bereich des gemäßigten Kontinentalklimas, d.h. Durchschnittstemperaturen im Februar -11 C. Einreise: Ein für Moskau gültiges Visum berechtigt automatisch auch zum Besuch der umliegenden Ausflugsziele des Goldenen Ringes. Ausgefolgt werden Visa in Wien von der Russischen Botschaft, Reisnerstraße 45, Tel. 01 / 712 32 33. Eine Einladung aus Russland oder Hotelvoucher (Bestätigung durch russisches Reisebüro) sind Voraussetzungen zur Erteilung.