Ökologie
"Abseits der Piste herrscht Lebensgefahr"
Lawinenexperte sieht Schneedecke "ungewöhnlich instabil"
Innsbruck/Bregenz - "Wenn ich jetzt zehn Meter weiter links gehen würde, würde ich sicher eine Lawine auslösen." Rudi Mair, der Leiter des Tiroler Lawinenwarndienstes, war Freitagvormittag für den STANDARD in den Tuxer Voralpen zu erreichen, bei einer Erkundungstour am Sonntagsköpfl. Diese Skitour kenne er seit 20 Jahren, heuer sei die Situation außergewöhnlich: "So viele Selbstauslösungen hab' noch nie gesehen", sagt Mair, der das Gelände am Donnerstag auch bei einem großräumigen Hubschrauberflug erkundet hat. Selbst mäßig steile Hänge von nur 20 Grad Neigung seien betroffen. "Es ist ganz anders als in den vergangenen Wintern." Für Tourengeher bleibe die Situation "sehr riskant", Skitouren abseits der gesicherten Pisten seien "lebensgefährlich".Allein Mittwoch und Donnerstag wurden in Westösterreich sieben Personen bei fünf Lawinenabgängen verschüttet. Drei kamen ums Leben: zwei Tiroler im Lechtal, ein Deutscher in Serfaus. Zwei verschüttete Snowboardfahrer konnten sich bei St. Anton selbst aus den Schneemassen befreien, ein Australier, der am Donnerstag in Langen am Arlberg von einem Schneebrett erfasst wurde, wurde von seinem Begleiter rechtzeitig entdeckt, da seine Hand aus dem Schnee ragte.
Die Kälte als Ursache
In ganz Tirol und Vorarlberg bleibt die Lawinengefahr "erheblich" (Stufe drei), mit einer baldigen Entspannung ist nach Angaben der Warndienste nicht zu rechnen.
Hauptgrund für die äußerst instabile Schneedecke seien die außergewöhnlich kalten Temperaturen, sagt Rudi Mair. Meteorologen sprechen vom kältesten Winter in Österreich seit 20 Jahren. Im Dezember war es im Schnitt um zwei Grad zu kalt für die Jahreszeit. In der Nacht auf Freitag sank das Thermometer vor allem in mehreren Orten Ostösterreichs unter 20 Grad minus, Rekordhalter war Mariazell mit minus 23,8.
Durch die anhaltende Kälte würden in Höhenlagen ab 2000 Meter an der Schneeoberfläche konstant Temperaturen zwischen minus 20 und -25 Grad gemessen, heißt es beim Lawinenwarndienst. Da Schnee gut isoliert, sei es am Boden, also nur wenige Zentimeter darunter, deutlich wärmer, an die null Grad. Der extreme Temperaturunterschied verhindere eine gute Verbindung der Schneeschichten. Eine Neuschneeschicht werde zudem durch den verbreiteten Wind schnell verfrachtet. "Da reichen dann geringste Erschütterungen durch einzelne Tourengeher, ja sogar eine etwas längere Sonneneinstrahlung aus, um die Schneedecke zu schwächen und ein Schneebrett auszulösen", warnt Mair.
Eine Entspannung sieht Mair erst bei längerer Erwärmung, auch in der Höhe und in der Nacht. Verkehrswege und Siedlungen seien nicht gefährdet. Die Lawinen seien auch aufgrund der geringen Schneemenge zu klein. (DER STANDARD, Print, 5.1.2002)