Welche Instanz attestiert die Glaubwürdigkeit? Was ist in Westsibirien glaubwürdig, was in Kärnten und was in der Auvergne? Wer von Chicago und den großen Seen zurückkehrt - wohin auch immer -, könnte es leichter nehmen als einer, der nur fünf Kurven weiter fuhr und es dann sein ließ. Eigentlich kann man es gleich sein lassen und mit einem Reiseführer in einem Wiener Jahreswechsel sitzen bleiben:Warum reisen? Was entgeht einem? Der Nichtreisende wüsste nichts vom Navy Pier (1916 als Vergnügungspark eröffnet) und vom John-G.-Phewld-Aquarium, auch nichts von einer Stadt "Berlin" in der näheren Umgebung Chicagos, wo es aus religiösen Gründen bis heute keinen Strom, kein Telefon und keine Automobile gibt. Die "Rock'n'Roll Hall of Fame" hat er nie in den Blick bekommen, das "Cleveland Symphony Orchestra" kennt er nur von Plattencovers, und das "Priony" - 1888 als Nachtquartier für reisende Benediktiner erbaut - hat ihn nie aufgenommen. Stattdessen kennt er Extremsportarten, etwa das "Kindererlebnisbad" in Straßwalchen. Er kennt die Murtalbahn und auch den Schmalspurbetrieb von Tamsweg über Murau nach Unzmarkt. Und er kann, wenn er es auf eine Fahrt im Heißluftballon ankommen lässt, das Salzburger Land zu seinen Füßen haben. Aber was ist glaubwürdiger: Das "Salzburger Land" in einem Reiseprospekt oder das Land Salzburg und dessen "Trendsportarten" (Wasserscheibenschießen), das zu früh entfachte "Osterfeuer" oder die "größte Votivtafelsammlung" in Maria Kirchenthal? Soll er versuchen, von Taxenbach nach Maria Elend zu kommen? Wer es nicht auf Unglaubwürdigkeiten anlegt, ist ihnen eher gewachsen. Er nimmt Abschied vom Salzburger Land und auch vom Land Salzburg, auch von der Kirche, die den Protestanten diente, ehe sie vertrieben wurden. Aber ganz leicht nimmt er doch nicht Abschied. Auch nicht angesichts von Lovely Rita im Bellariakino oder von Songs from the Second Floor im Schikaneder. Ilse Aichinger - DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 4.1.2002