Was im Fernsehen nicht funktioniert, ist für das Kino des David Lynch mehr als gut genug: "Mulholland Drive", das jüngste Meisterwerk des US-Künstlers, transformiert ein "totes" TV-Projekt in einen Horrortrip durch Los Angeles und Hollywoods Albtraum-Hinterstübchen.

Wien - Spätestens seit Billy Wilders Sunset Boulevard und dem im Swimmingpool treibenden William Holden wissen wir, dass es durchaus angemessen sein kann, aus der Perspektive von Toten über Hollywood und den amerikanischen Traum zu erzählen. Der neue Film von David Lynch, ebenfalls nach einer Straße in Los Angeles betitelt, variiert diese Erzählstrategie auf durchaus zeitgemäße Weise: Ausgangsmaterial für Mulholland Drive ist nämlich eine "tote" Fernsehserie.

Lynch hatte einen Pilotfilm für eine Mischung aus Mystery und Farce inszeniert, der wohl an den Erfolg von Twin Peaks anschließen sollte. Die US-Produzenten waren damit nicht zufrieden. Und der Künstler zog daraus eine heutzutage eher unübliche Schlussfolgerung: Was dem Fernsehen nicht gut genug ist, könnte ja im Kino hervorragend funktionieren. Beziehungsweise: Wenn Amerikaner etwas nicht verstehen, dann kommt die Rettung – siehe schon den Fall Wilder – aus Europa. Mit französischem Geld drehte Lynch weitere Episoden und Szenen, die (so viel Konsequenz musste sein) den fragmentarischen Charakter des Ursprungsmaterials noch verstärken.

Sehr allgemein gesprochen, teilt sich Mulholland Drive nun in zwei Segmente auf: Zwei Geschichten, die voneinander zu träumen scheinen. Oder: Von jener Toten geträumt werden könnten, die sie miteinander verbindet.

Die erste Geschichte erzählt von einer Hoffnung auf Karriere, Abwechslung und Suspense: Eine junge Schauspielerin (Naomi Watts) kommt in die Traumfabrik und ist unvermittelt einer Lady (Elena Harring) behilflich, die ihr Gedächtnis verloren hat. Dort, wo die beiden eine mysteriöse Leiche finden, kippt das Geschehen in einen anderen Handlungsbogen, mit denselben Darstellern unter anderen Vorzeichen: Eine Schauspielerin (Naomi Watts), rasend vor Eifersucht, will ihre Konkurrentin in Liebe und Beruf (Elena Harring) beseitigen. Findet sich am Mittelpunkt von Mulholland Drive eine Ermordete selbst?

"Hallo?"

Nahezu alle wesentlichen Filme von David Lynch, von Eraserhead über Blue Velvet bis herauf zu Lost Highway spielen mit diesem Riss zwischen Traum und Wirklichkeit, den das Kino mit Überblendungen, Montagen und Soundmalereien spielerisch und effektiv zugleich zu überbrücken weiß.

Man denke nur an das abgeschnittene Ohr, in das Blue Velvet stürzte, als wäre dort für immer das wahre Amerika, hinter den weiß gestrichenen Fassaden aufgezeichnet. Oder den "letzten Lebensfilm" eines Mörders, als den sich Lost Highway in seiner zweiten Hälfte gestaltete. Dort war es als größter Schrecken möglich, von einem weiß geschminkten Dämon gebeten zu werden: "Rufen Sie mich doch an." Und dann, während der Unhold einem lächelnd gegenüber stand, aus dem Telefonhörer seine Stimme zu hören: "Hallo?"

Mulholland Drive ist voll von solchen Momenten und Täuschungen. Und er ist in den Bildern und Tönen, die dabei beschworen werden, der bis dato selbstreferenziellste unter David Lynchs Filmen.

Wieder hören wir, wie schon in Blue Velvet, ein Lied von Roy Orbison: In einem verfallenen Varieté-Theater singt eine sterbende Schönheit Crying – und obwohl wir vorher von einem Conférencier gewarnt worden sind: Ihre Stimme kommt vom Band, und dadurch ist am Ende ihr lebloser Körper besonders horribel.

Wieder, wie bei Twin Peaks, lauert an banalsten Allerweltsorten der Schrecken. Und wieder gibt es traumhafte Warteräume, in denen Fantasiewesen zu tanzen scheinen. Man tut Mulholland Drive aber Unrecht, würde man ihn nur als ein besseres Repertoirestück eines Meisters sehen, der solche und ähnliche Standards schon des öfteren virtuos präsentiert hat.

Zum einen hat David Lynch hier nämlich etwas geschafft, was ihm noch bei Twin Peaks nicht gelang: Er hat, anders als beim Serienableger Twin Peaks – Fire Walk With Me Elemente der TV-Seifenoper für das Kino nicht nur parodistisch genutzt, sondern aus dem gegenseitigen Voneinander-Träumen von Film und Fernsehen tatsächlich etwas Neues generiert: eine Form des episodischen Fabulierens, die weit über die zuletzt oft strapazierten Short Cuts im Gefolge von Robert Altman hinausgehen.

Hollywood Babylon

Gleichzeitig ist Lynch dabei ein Porträt der Stadt Los Angeles und der Traumfabrik Hollywood gelungen, das beim Film Noir Sunset Boulevard anknüpft, um schließlich direkt beim Avantgarde-Filmer und Glamour-Albträumer Kenneth Anger zu landen.

Dieser geniale Beschwörer der Finsternis (Scorpio Rising) schrieb bekanntlich ein Standardwerk über die Schattenseite der kalifornischen Filmindustrie: Hollywood Babylon - ein Kompendium über Drogen, Gewalt und Betrug hinter strahlenden Fassaden.

Wie Anger vertraut Lynch weniger psychologischen und ideologischen Erklärungen über die Nachbarschaft von Glamour und Verfall. Er liest vielmehr ganz intuitiv archaische Situationen neu. Dabei verfällt er mitunter in Slapstick-Gags, die des frühen Stummfilms würdig gewesen wären. Er glaubt noch an teuflische Masken, magische Rituale und gefährliche Sprüche. Und er kreiert einen Schrecken, hypnotisch wie Kinderreime: "Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?" Lynch, über den man sehr viele Analysen nachlesen kann, ist ein im besten Sinne primitiver, alles andere als kopflastiger Filmemacher.

Man denke sich zum Beispiel folgende Szene aus Mulholland Drive: Ein junges Mädchen fährt mit einem greisen Ehepaar in einem Taxi. Sie erzählt ihre Träume, wirkt schrecklich naiv und die alten Leutchen bestärken sie im Unsinn, den sie da redet, mit einer Geschwätzigkeit, wie man sie aus Filmen über Senioren in Hawaii-Hemden kennt. Großes Hallo beim Abschied. Und dann, allein im Taxi, beginnen der alte Mann und seine Frau ein Höllengelächter. Nichts kann uns jetzt bei David Lynch noch retten. Es sei denn, wir misstrauen dem, was wir sehen und hören.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4. 1. 2002)