Der erste Roman der israelischen Autorin Mira Magén
,
Vor drei Jahren erschien so gut wie unbeachtet Mira Magéns Erzählband Gut
zugeknöpft als Fischer-Taschenbuch. Es waren nicht, wie vom Verlag angekündigt
"unerhörte Geschichten aus der Lebenswelt orthodoxer Jüdinnen in Israel", sondern
es war sehr präzise und verhalten erzählte Kurzprosa über Menschen, die aus den
verschiedensten Gründen an den Rand der Gesellschaft geraten sind, der zugleich die
Grenzen ihrer Welt bedeutet, sodass der kleine Schritt aus ihr hinaus zum Schritt in
den Abgrund wird.
Diese Geschichten beginnen fast beiläufig mitten im Satz, mitten in einem Leben, und
bereits in diesem ersten Satz liegt die Tragik, die sich im Lauf der Geschichte dann
entrollt (es sind Texte, die ein genaues Lesen fordern), denn ihre Schönheit entfaltet
sich in Details und einer unaufdringlichen Poesie, in der immer ein wenig Trauer
mitschwingt.
Der erste Roman der Autorin ist nun in der Reihe dtv-Premium erschienen. Damit ist
ihm eine größere Aufmerksamkeit gesichert als dem Erzählband, und viele der
Qualitäten, die ihre Kurzprosa auszeichneten, sind auch hier wieder zu finden.
Dennoch löst er nicht alles ein, was die Erzählungen versprechen. Was in der
Kurzprosa Andeutung bleiben darf, muss im Roman ausgesprochen und dabei auch
entmystifiziert werden.
So auch die große, obsessive und unerwiderte Liebe der jungen Frau Ossi zu dem um
einiges älteren Witwer Elischa, dessen Tochter in Ossis Familie aufwächst. Elischas
Frau Alma kam als Fremde in den von religiösen Aschkenasim bewohnten Moschaw,
eine dem Kibbuz ähnliche Genossenschaftssiedlung. Für sie als nicht religiöse
Jemenitin war diese Ehe eine Flucht vor einer unmöglichen Liebe und eine Suche
nach Halt und Geborgenheit in der Orthodoxie. Bei der Geburt ihres ersten Kindes
starb sie und ließ eine scheinbar nicht zu füllende Leere in ihrer Umgebung zurück,
die Ossi in immer neuen verzweifelten Anläufen zu überwinden sucht. Dabei wird Alma
aber auch für Ossi zum Lebensmittelpunkt, denn die Parameter ihres Umfelds werden
von jenen bestimmt, die zu Alma in einer Beziehung standen: ihre Tochter Heda, der
Gynäkologe Schejnfeld, der Ossis Liebhaber wird, Almas erste Liebe, der
Buchhändler Amnon, und ihr Ehemann Elischa.
In diesem Sinn ist der Roman Spurensuche, Erinnerungsarbeit, Totengedenken und
Obsession, die sich in der Liebe zu einem von ebendieser Toten besessenen Mann
verzehrt. Die fast magische Qualität von Details und die Stimmigkeit, die diese Details
mit Symbolkraft ausstattet, ohne ihnen ihre Sinnlichkeit zu nehmen, erinnert an
Magéns Kurzgeschichten. Und auch die Erotik, die in subtilen Innuendos, in
Halbsätzen, in Andeutungen, im Schweigen eine fast unerträgliche Spannung
zwischen Menschen erzeugt und die Dinge mit Bedeutungen auflädt, deren Gewicht
dem Text eine manchmal schier unauslotbare Tiefe geben. Es sind diese kleinen
nebensächlichen Zeichen und Gegenstände, das, was zwischen den Sätzen steht,
was bei Mira Magén die Handlung trägt. Die Details sind nicht Füllmittel, sondern
Wegweiser zu etwas dahinter Liegendem, das nicht ausgesprochen werden kann und
auch nicht ausgesprochen werden sollte.
Das Zusammentragen von übersehenen Fragmenten der Erinnerung und flüchtigen
Eindrücken ist wie eine Spurensuche nach dem, was sich verbirgt, was einen
Menschen jedoch erst ausmacht, was seine Handlungen motiviert und sich dem
Verständnis verweigert. Dabei weitet sich Ossis Suche nach Alma und nach Elischas
Liebe zu grundsätzlichen metaphysischen Fragen aus, nach der für ihr religiöses
Verständnis inakzeptablen, ja geradezu ungeheuerlichen Zufälligkeit des Schicksals,
dem man nicht entkommt, auch nicht, wenn man in der Religion und der Vorstellung
eines persönlichen Gottes Deckung sucht.
Um diese Auseinandersetzung mit der Orthodoxie, die das äußere Umfeld des
Romans bestimmt, geht es in diesem Buch vor allem, und sie wird auf mehreren
Ebenen geführt: auf der Ebene der sinnlich wahrnehmbaren Welt, der alltäglichen
Gegenstände und Verrichtungen in Ossis orthodoxem Moschaw, den sie in einem
rebellischen Selbstbefreiungsversuch verlässt, aber auch auf der Ebene literarischer
Anklänge und biblischer Referenzen, die den Text bereichern. Das schwächste
Element dabei bleibt die Handlungsebene, die ein wenig zu schematisch wirkt, ein
wenig konstruiert. Jerusalem ist das profane Gegenstück zu den engmaschigen
Beziehungsgeflechten des Moschaw. Aber es sind vor allem die Natur und das
bäuerliche Leben des Moschaw, die plastisch und in überraschenden, sinnlichen
Bildern beschrieben werden. Ossis Ausbruch aus dieser Welt ist, vielleicht ohne die
Absicht der Autorin, wie ein Entlassenwerden in eine kältere, funktionale und ärmere
Wirklichkeit.
( Von Anna Mitgutsch - DER STANDARD, Album, Sa./So., 1./2.12.2001)
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