Der Versuch, die Krise unserer Gesellschaft durch pädagogische Strategien meistern zu wollen, die Hoffnung, durch Erziehung und Bildung zu einer gerechteren, rationaleren Welt beizutragen, bildet eines der Fundamente unserer Zivilisation. Bildung versorgt Individuen mit Kriterien, mit Werten und Zielen. Dabei geht es vor allem das Verständlich-machen, um ein sich-in-Beziehung-setzen zu den dominierenden (und auch zu den vielen anderen) Werten und Gütern einer Gesellschaft. Dazu bedarf es aber auch des Zutrauens, dass wir uns in einer prinzipiell verstehbaren Welt bewegen, dass solche Verständlichkeit überhaupt möglich und auch tauglich ist. Gleichzeitig zeigt uns Bildung durch ihre historischen Dimensionen, dass unsere Werte und Ziele einem Wandel unterliegen, wobei es aber auch hier wieder darum geht, die Bereitschaft zum Wandel der Verständlichkeit aufzubringen, und ein Bewusstsein von den Grenzen solcher Verständlichkeit zu entwickeln. So gemeinte Verständlichkeit ist dabei kein einmal erreichter Zustand ist, sondern ein Prozess, der Auskunft über die ordnenden Kräfte unseres Lebens zu geben vermag. Da wir soziale Wesen sind, betrifft dies aber nicht nur unsere persönlichen Stellungnahmen zur „Welt“, sondern die Aufgabe besteht auch darin, Gründe zum Handeln zu finden. Um nun zu den gegenwärtigen Problemen zu kommen, so sind die Reaktionen auf den religiösen Fundamentalismus heute extrem von einer (auf den ersten Blick natürlich gerechtfertigten) ökonomischen und technologischen Logik getragen. Weil ich Löwe heiße, brülle ich eben, ohne zu fragen, welche anderen Wege der Kontaktaufnahme noch möglich wären. Wie viele Milliarden US Dollar sind dabei in die Stützung von Militärregierungen und Waffenarsenale investiert worden und wie viele in den Aufbau von Bildungsstrukturen? Ich denke, dass es aber vor allem die Geisteswissenschaften, die heute z. B. an den Universitäten gerade auf ein unerträgliches Minimalmaß zusammengestutzt werden, sein können, die solch außergewöhnliche Ereignisse wie den Terroranschlag vom 11. September in ihrer inneren historischen, kulturellen und sozialen Logik verstehen helfen können. Die extrem hohe symbolische Aufladung dieser Zerstörungen rufen förmlich nach neuen Wegen der Orientierung und Verstehbarkeit der Welt. Die Medien, mit ihrer Oberflächenrhetorik, die Politik mit dem Primat des Handelns, die Wirtschaftswissenschaften mit ihren meist rationalen Logiken der Kosten- und Profitmaximierung (um hier nur einige gesellschaftliche „Wegmarkierer“ herauszugreifen) sind hier nicht in der Lage, das Geschehene historisch, sozial, kulturell zu encodieren und im Sinne der oben erwähnten Verständlichkeit zu Lern- und Bildungsanlässen zu machen. Dazu bedarf es der Pädagogen, der Historiker, der Ethnologen, der Linguisten und vieler anderer, die im Reservoir der geisteswissenschaftlichen Disziplinen an der Bewohnbarkeit der Welt arbeiten. In diesem Sinne bekommt das „Projekt Bildung“, abseits einer rein ökonomischen Denkweise, wieder einen gesellschaftlichen Sinn und eine anerkannte Aufgabe. Bildung ist dabei kein funktionalistisches Gehabe der Computer- und Wissensindustrie, sondern vor allem eben Verständigung darüber, wie wir leben wollen, welche Grenzen, Ordnungen, Notwendigkeiten und Formen von Leben wir für wie wesentlich erachten. Eine solche Frage bedarf der Rückbindung an die Gesellschaft, bedarf des Aufgreifens der Gelegenheiten zum Lernen. Indem wir uns darüber verständigen, woher wir kommen, erkennen wir auch, wohin wir gehen. Es gibt viel Beunruhigendes zum Nachdenken seit diesem 11. September. Die Bilder dieser unglaublichen Inszenierung des Horrors werden uns noch lange verfolgen, aber auch trotz der unüberschaubaren Flut an Mutmaßungen und Indizien haben wir weiterhin keine befriedigende Aufklärung über den Verursacher und den Zweck dieser Attacke. Jenseits der Politikerreden und des gewichtigen Schulterschlusses gegen den „Feind“ ist hier eine Leerstelle auszumachen. Mit dem Schweigen zwingen uns die Terroristen, die Botschaft der Gewalt selbst zu dechiffrieren. Sie zwingen uns damit, die oben gestellten Fragen nach der Verständlichkeit, der Ausrichtung unserer Welt, als substanziell zu begreifen. Die Zeit des Brüllens ist deshalb (hoffentlich) bald vorbei, und das Nachdenken, Abwägen und Verhandeln kommt wieder in Gang. Rudolf Egger ist Professor am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Karl-Franzens-Universität Graz