Die Schlacht ist geschlagen. Die Nebel lichten sich. Was tatsächlich geschehen ist, darüber streiten längst die Hohepriester politischer Deutung. Das gemeine Fußvolk derweil reibt sich noch die Augen. Klare Sicht hat noch niemand, doch dass am 16. November das innenpolitische Kräfteparallelogramm Deutschlands sich dramatisch verschoben hat, ist klar. Klar jedenfalls, zu wessen Ungunsten. Und die Frage lautet: Wie war es möglich, die mühsam errungene politische Macht, die man nolens volens ja durchaus sinnvoll zu nutzen wusste, so leichtfertig zu riskieren, womöglich gar irreparabel zu beschädigen? Erhard Eppler, gewiss kein Freund des militärischen Interventionismus, schrieb kurz vor der Abstimmung, er wolle nicht, dass die "demokratische Linke in zehn Jahren" vergeblich zu verstehen versuche, wie man einst "die Chancen einer linken Reformpolitik für Jahrzehnte verspielen konnte". Wobei zu ergänzen wäre, dass schon heute hart an die Grenzen vernünftigen Räsonnements stößt, wer den tieferen Grund dieser Malaise ausloten will. Offenbarungseid Dass die grüne Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer, die zuvor selbst mit Äußerungen von erstaunlicher Unbedarftheit das Feuer mit an die Lunte legte, plötzlich einer Politisierung des Pazifismus das Wort redet (vgl. STANDARD-Interview, 26. 11.), um ihr Ja zu Einsatz und Vertrauensfrage zu rechtfertigen, verzerrt das Problem bis zur Kenntlichkeit. Denn eben dies, die "Politisierung des Pazifismus", haben die Grünen nie konsequent durchgearbeitet. Sie jetzt platterdings zu proklamieren, gleicht dem Offenbarungseid eines politischen Führungspersonals, das sie spätestens Anfang der Neunzigerjahre mit Nachdruck hätte betreiben müssen. Das nicht getan zu haben ist die eigentliche Sünde. Mit anderen Worten: Die Grünen haben ihr "Godesberg" versäumt, die rückhaltlose Verabschiedung von wirklichkeitstauben Phantas- magorien politischer Heilslehren. Und das ist eben nicht oder nicht nur aus der strategischen Überlegung heraus, damit den politischen Gegner mit wohlfeilen Argumenten munitioniert zu haben, unverzeihlich. Europäische Deeskalationspolitik ein Desaster Vor allem haben die Grünen wie die Gesellschaft als ganze es unterlassen, aus dem größten Desaster europäischer Deeskalationspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, aus dem Massenmord von Srebrenica, die Konsequenzen zu ziehen. Das Massaker an Tausenden Muslimen, neben den anderen mit Akkuratesse vorbereiteten und exekutierten Gräueln in Bosnien, Kroatien, dem Kosovo, wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit durch einen frühen, entschlossenen und robust durchgeführten militärischen Einsatz zu verhindern gewesen. Und ohne die spätere Intervention gegen Serbien säße Milosevic vermutlich noch heute in Belgrad und nicht in Den Haag. Was bei den Grünen offensichtlich viele viel zu lange nicht zu denken oder zu sagen wagten: dass Pazifismus vorab eine individualethische, keine unmittelbar und ungebrochen ins Politische übersetzbare Kategorie ist. Getrübter Blick Wer um den Preis seines eigenen Lebens darauf verzichtet, einen Mordabsichten hegenden Angreifer aus Selbstschutz zu töten, verdient gewiss Respekt. Doch schon die Übertragung auf Situationen, in denen nicht mein, sondern das Leben anderer auf dem Spiel steht, macht dieses Ethos fragwürdig. Und gänzlich ungeeignet ist ein Pazifismus als vermeintliches Prinzip politischen Handelns, das gleichsam a priori, d. h. vor jeglicher Prüfung des politischen Status quo, glaubt benennen zu können, was "gut" und was "böse" sei. Die politische Urteilskraft im Sinne der Aristotelischen "Phronesis", der umsichtigen Einsicht des Handelnden in seine Situation, ist mit jedweder Form eines wirklichkeitsabstinenten Prinzipialismus unvereinbar. Das starre Beharren auf abstraktem Grundsatz trübt politische Einsichtsfähigkeit bis zur Blindheit. Abschied vom Prinzipiellen Politisierung des Pazifismus aber hieße: Abschied vom Prinzipiellen als Bedingung der Einsicht in real- und machtpolitische Zusammenhänge, innerhalb deren eine an der Entfaltung von Zivilität und Humanität ausgerichtete Politik einzig zu verorten ist. Sinnvoll wider die Logik des Bellizismus streitet nur, wer das Dispositiv des Militärischen in ein Konzept politischer Gewaltprävention einbindet. Was konkret bedeutet, für jeden Einzelfall den Einsatz gebotener Mittel am ausgewiesenen Zweck neu zu justieren. Eine Politisierung des Pazifismus wird deshalb den Einsatz militärischer Mittel, etwa zur Verhütung eines Bürgerkriegs wie im Falle Mazedoniens, nicht ausschließen können und dürfen. Im Feld des Politischen gibt es kein letztes Kriterium, das davor schützt, irren zu können und deshalb Schuld auf sich zu laden. Nachholprozess? Die Umformatierung einer ideellen Kategorie in eine politische Handlungsmaxime geht einher mit dem notwendigen Verlust letzter Gewissheiten. Ob durch den Schock vom 16. November die Grünen gleichsam im Zeitraffer diese Einsichten programmatisch werden nach- und einholen können, und ob das überhaupt noch reicht, der drohenden nachhaltigen Marginalisierung zu entgegen, dürfte sich schon bald zeigen. (DER STANDARD Print-Ausgabe, 27.11.2001)