Oranienburg - Ein Zeitzeuge berichtet: Michail Dewjatajew, 83 Jahre alt, besucht eine Ausstellung über das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener im früheren NS-Konzentrationslager Sachsenhausen. 1944 stand der damalige Jagdpilot der Roten Armee in Oranienburg bei Berlin in der Schlange zur Hinrichtung. Doch er wurde nicht nur gerettet, wenige Monate später gelang ihm sogar eine spektakuläre Flucht. Nach Abschuss und Gefangennahme verurteilt ein Schnellgericht den 24-jährigen zum Tode und verlegt ihn zur Hinrichtung nach Sachsenhausen. Dort habe ihn eine geheime Häftlingsgruppe gerettet und als verstorben in die SS-Listen eingetragen, berichtet Dewjatajew. Unerkannt Fortan lebt er unter fremdem Namen im Konzentrationslager. Niemand erkennt ihn als ausgebildeten Piloten. Schließlich wird er mit anderen Häftlingen im Dezember 1944 zur Zwangsarbeit an die Ostsee verlegt. In Peenemünde, wo deutsche Wissenschaftler an der Entwicklung der viel propagierten deutschen "Wunderwaffe" V2 arbeiten, sollen die Häftlinge ein neues Konzentrationslager errichten. "Auf dem nahen Flugplatz landeten häufig große deutsche Bomber. Da kam mir die Idee, mit einem Flugzeug von hier zu flüchten", erinnert sich Dewjatajew heute. Auf dem benachbarten Schrottplatz rostet eine ausgemusterte Maschine vor sich hin. Der russische Kriegsgefangene schleicht sich nachts ins Cockpit, um sich mit den Instrumenten vertraut zu machen. "Ich hatte noch nie so einen großen Bomber geflogen", erklärt Dewjatajew. Zwei Mithäftlinge weiht er in seine Fluchtpläne ein. Mittlerweile ist es Februar 1945. Das Wetter ist schlecht, so dass ein Start unmöglich scheint. Durchführung Nach Tagen hört es endlich auf zu schneien. Am ersten Sonnentag gehören die drei zu einem Arbeitskommando von insgesamt zehn Mann, das nahe der Startbahn eingesetzt ist. Am Mittag gehen die deutschen Bewacher zum Essen, nur ein SS-Mann bleibt zurück. Dewjatajew und ein zweiter Häftling erschlagen ihn. Der Rest des Arbeitskommandos erfährt jetzt von dem Fluchtplan. Alle Zehn rennen auf die Startbahn. Dort steht ein Heinkel-111-Bomber der deutschen Luftwaffe, gebaut in Oranienburg nahe des Konzentrationslagers. Mit einem Bremsklotz werfen sie eine Scheibe der Kabine ein und klettern hinein. Doch die Maschine springt nicht an, weil die Akkus keinen Strom haben. "In diesem Moment bin ich zusammengebrochen", erinnert sich Dewjatajew. Da entdeckt ein Häftling einen Anlasserwagen hinter dem Hangar. Mit ihm gelingt es tatsächlich, den Motor zu starten. Spannungsmoment Die Maschine fährt über das Rollfeld. "Aber der Steuerknüppel lässt sich nicht runterdrücken, es gelingt mir nicht zu starten", erklärt Dewjatajew. Noch heute schildert er lebhaft die bangen Minuten. Er wendet die Maschine, versucht es noch einmal erfolglos. Mittlerweile haben die Deutschen auf dem Überwachungsturm erkannt, dass Häftlinge in dem Bomber sitzen. Sie alarmieren die SS. "Beim dritten Startversuch ziehen alle Flüchtigen gemeinsam am Steuerknüppel. Dann endlich heben wir ab", berichtet der Zeitzeuge. Die Maschine fliegt Richtung Osten. Zwei Mal kommen deutsche Jagdflieger heran, drehen aber wieder ab, nachdem sie das Hakenkreuz auf dem Heckruder erkannt haben. Beschuss von der eigenen Seite Hinter der Front wird die Maschine von der sowjetischen Flugabwehr beschossen und an der Tragfläche getroffen. Trotzdem gelingt Dewjatajew die Notlandung in einem Wald. Sowjetische Soldaten halten die Flüchtigen zunächst für Deutsche, dann für Spione. Neun der abgemagerten und entkräfteten Flüchtlinge werden sofort wieder an die Front geschickt, das KGB verhört Dewjatajew. Die Geheimdienstmitarbeiter misstrauen ihm und schicken ihn in ein Lager. Nach einem halben Jahr wird er von dort in seine Heimatstadt Kasan an der Wolga entlassen. Der Krieg ist vorbei, das KGB aber beobachtet Dewjatajew weiter. Bis zu Stalins Tod 1953 darf er nur als Hilfsarbeiter im Hafen sein Geld verdienen. Erst dann wird er rehabilitiert, zum "Helden der Sowjetunion" ernannt und zum Kapitän auf einer der damals neuen Schnellboote befördert. Auf dieser "Raketa" fährt er noch 24 Jahre lang die Wolga zwischen Nischni Nowgorod und Saratow auf und ab. "Fliegen aber durfte ich nie wieder", bedauert der Pensionist, "nicht einmal in einem Sportflugzeug." (APA)