Nimmt man die Äußerungen aller Beteiligten ernst, dann kennt der nach zähem Ringen um Zahlen, Kommas und Klammern erzielte Klimakompromiss von Marrakesch nur Sieger. Die EU hat das Regelwerk für den in Kioto vereinbarten Kampf gegen den Treibhauseffekt auf den Weg gebracht. Und die Klimabremser, allen voran Russland und Japan, können mit dem weichen Kompromiss auch mehr als nur gut leben. Letztere haben mit hohen Einsätzen gepokert und fast auf der ganzen Linie gewonnen. Mitgeholfen bei der Verwässerung des Abkommens haben die Partner Australien und Kanada. Für diese "Viererbande" war selbst ein Abkommen extraleicht im Vorfeld der Konferenz schon ein Zuviel an Zugeständnissen. Daher sind sie mit dem Ergebnis der Konferenz, nämlich einem klimatischen Ablasshandel, mehr als zufrieden. Sie können sich mit Klimaschutzprojekten im Ausland von ihren Verpflichtungen freikaufen, und zu Hause können sie die Hände in den Schoß legen oder gar noch mehr Klimakiller in die Luft blasen. Operation gelungen, Patient erstickt. Die EU stand in Marokko vor dem Dilemma, ohne eine weitere Aufweichung der hehren Klimaziele die Zukunft des gesamten Klimaschutzes aufs Spiel zu setzen. Das wussten auch die Regierungen in Tokio und Moskau, wo wahrscheinlich jetzt schon die Champagnerkorken knallen. Auch die Europäer dürften wohl feiern, den Sekt aber eher im Kühlschrank lassen. Denn den meisten in der EU-Delegation dürfte wohl klar sein, dass der Umweltschutz der eigentliche Verlierer des Klimakompromisses ist. Politik ist die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, besonders wenn es um internationale Abkommen und komplexe Themen geht, argumentieren Beobachter des langen Marsches der Klimakarawane mit Recht. Das jetzt vorliegende Ergebnis war einfach das höchste der Gefühle, das sich erreichen lässt, wenn die Interessen von 164 Ländern unter einen Hut zu bringen sind. So weit, so gut, und vielleicht sogar richtig. Nur für praktizierende Dialektiker ist dagegen die Freude der Umweltschützer und der regierungsunabhängigen Organisationen nachvollziehbar. Anstelle Kioto extraleicht als Verrat an ihren Idealen anzuprangern und für das Klimaschutzbegräbnis erster Klasse einzuladen, stimmen sie - zugegeben mit Nuancen - in den Chor jener Länder ein, die ihr fehlendes ökologisches Rückgrat nun zum Meilenstein im Kampf gegen die Klimakiller umdeuteln wollen. Offenbar wurden die Umweltschützer bei ihrem Ritt in der Konferenzkarawane von der Kompromisssucht der Europäer angesteckt. Diese Infektion wurde auch deshalb so virulent, weil den Klimaschützern ihr Hauptgegner, die USA, abhanden gekommen ist. Klar ist aber auch, dass die diversen Ökoorganisationen genauso wie die Politiker Erfolge vorweisen müssen, um ihre jeweilige Klientel bei der Stange zu halten. Erstere brauchen Spenden, Letztere Stimmen. Die kann man natürlich nur dann einheimsen, wenn man regelmäßig die Erfolge seines Einsatzes für die gute Sache medial zelebrieren lässt. Dafür muss man Kollateralschäden in Kauf nehmen, sei es der Gedanke des Umweltschutzes im Allgemeinen oder die ökologische Unversehrtheit des Kioto-Abkommens. Beide drohen der Kompromisssucht oder dem Harmoniebedürfnis um jeden Preis zum Opfer zu fallen. Dass dank der Aufweichung des Klimaschutzregimes so manch einem Inselstaat das Wasser noch früher bis zum Hals stehen wird, dafür kann man dann immer noch zeitgerecht einen Sündenbock ausfindig machen. Spätestens dann werden die Umweltschützer wieder viele Worte der Empörung finden, und die Politiker in Ost und West werden wieder einmal ihr Gefangensein in Sachzwängen betonen. Und sich sogleich einen blütenweißen Persilschein ausstellen: "Verantwortlich für Marrakesch sind - leider - unsere Vorgänger", wird es dann heißen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12. 11. 2001)