Mit jedem Tag mehr manövriert sich die schwarz-blaue Koalition in Sachen Temelín in eine ausweglose Situation. Statt die Verhandlungen mit dem Nachbarn Tsche- chien auf einer vernünftigen Ebene weiter zu betreiben, was nur über die konsequente Fortführung des Melker Prozesses gelingen kann, fährt vor allem die FPÖ eine Eskalationsstrategie. Vorläufiger Höhepunkt ist die Aberkennung der Souveränität Tschechiens in dieser Frage durch Vizekanzlerin und FP-Bundesparteiobfrau Susanne Riess-Passer in der "Pressestunde". Die Aussagen der Vizekanzlerin sind in einem hohen Ausmaß unvernünftig und unverantwortlich. Denn die Aberkennung der Souveränität eines Landes ist die schärfste Stufe der zivilisierten Auseinandersetzung zwischen zwei Ländern. Eine Steigerung wäre allenfalls eine militärische Depesche. Es gibt zwei Möglichkeiten, um die Aussagen der FPÖ-Chefin politisch zu werten: Entweder weiß sie nicht um die Tragweite ihrer Aussagen. Dann ist sie als Chefin einer Regierungspartei heillos überfordert. Die zweite Möglichkeit ist, dass sie sehr wohl die Bedeutung kennt. Daraus ist zu schließen, dass sie bewusst eine eminente Sicherheitsfrage des Landes mit parteipolitischen Interessen befrachtet, und sie setzt sich auch in diesem Fall dem Vorwurf der mangelnden Regierungsfähigkeit aus. Denn weder die Aberkennung der Souveränität Tschechiens noch die Drohung mit einem Veto gegen den EU-Beitritt dieses Landes verbessern die Sicherheit Temelíns. Außerdem erhebt sich die Frage, ob auch anderen AKW-Ländern die Souveränität abzuerkennen ist. Derzeit sind weltweit 434 Kernkraftwerke in 33 Ländern in Betrieb, deren Sicherheit man ebenfalls bezweifeln kann. Die Haltung der FPÖ ist somit nicht nur inkonsequent, sondern ziemlich unsinnig. (DER STANDARD, Print, 12.11.2001)