Europa
Türkische Krise trifft die Ärmsten
Regierung gibt Ernährungstipps
Istanbul - Fahriye Karahaner (45) steht jeden Tag um 6.00 Uhr auf, um Brot zu holen.
Der Rest der Familie, zehn Leute in drei Zimmern, schläft dann noch. Fahriye geht
nicht zum Bäcker, sondern zum "Halk-Ekmek"-(Arme-Leute-Brot)-Schalter, wo das
200-Gramm-Brot nur halb so viel kostet, nämlich 100.000 Lira (0,07 Euro/knapp einen
Schilling). Allein in Istanbul gibt es 1.500 dieser Verkaufsstellen und je länger sich die
Wirtschaftskrise in der Türkei hinzieht desto länger werden auch die Schlangen vor
dem "Halk Ekmek".
Der einzige im Haus der Karahaners, der Geld verdient, ist Sohn Mehmet. Er schafft
als Fahrer 150 Millionen Lira (108,0 Euro/1.486 S) im Monat heran. Der Vater ist
arbeitslos, Gelegenheitsarbeit selten zu finden. Zwei Schwestern haben ihren Job in
einer Schneiderwerkstatt verloren - sie teilen das Schicksal von Zehntausenden, die
seit Anfang des Jahres entlassen wurden. Zigtausende kleiner Händler und
Handwerksbetriebe haben seit Ausbruch der Krise für immer die Gitter vor ihren Läden
heruntergelassen.
Dass die Preise beständig steigen, ist in der Türkei nichts Neues. Doch seit Monaten
vergeht kaum eine Woche ohne neue Preiserhöhungen. Mal ist es das Benzin, mal der
Busfahrschein, mal das Haushaltsgas, mit dem die meisten kochen; von Zigaretten
und Raki, dem türkischen Anisschnaps, ganz zu schweigen. Als der Brotpreis vor
einem Monat von 150.000 auf 200.000 Lira stieg, rief dies sogar die Regierung auf den
Plan. Sie geißelte die Spekulanten und verkündete großspurig: "Mit dem Brot des
Volkes lassen wir niemanden spielen." Am Preis änderte sich indes nichts.
Zur Ankurbelung der Nachfrage senkte die Regierung Anfang des Monats die
Mehrwertsteuer für Autos, Haushalts- und Elektrogeräte. Während die bis zum
Jahresende befristete Aktion von den Herstellern freudig begrüßt wurde, fragte der
Verband der Lebensmittelhändler irritiert, warum die Steuersenkung nur für
"Luxusgüter" und nicht für Grundnahrungsmittel gelte, wie Fleisch, Milch, Mehl oder
Zucker.
Früher waren es selbst die ärmsten Familien gewöhnt, Fleisch oder Faschiertes
kiloweise einzukaufen. "Viele verlangen jetzt 100 oder 200 Gramm", berichtet der
Fleischer Hüseyin Türkoglu. Das habe er in den 20 Jahren, in denen er in seinem
Viertel verkaufe, noch nicht erlebt. "Aus Scham schicken die Eltern ihre Kinder."
Es müsse ja nicht immer Fleisch sein, stellte jüngst das türkische
Gesundheitsministerium fest. Linsen täten es auch. Anstatt mit Fleisch könne der
Proteinbedarf auch mit Eiern gedeckt werden - zum halben Preis. Kichererbsen täten
es sogar zu einem Fünftel des Fleischpreises, hieß es in dem Ernährungsbericht.
Statt Bananen empfahl das Ministerium Äpfel.
Verschwendung sei es, Obst oder Gemüse außerhalb der Saison zu kaufen. Das, was
die Jahreszeit gerade zu bieten habe, sei nicht nur billiger, sondern auch
schmackhafter und nährreicher. Gerade einkommensschwache Familien sollten nicht
zuletzt darauf achten, das wirklich Nötige auf einen Zettel zu schreiben, bevor sie das
Geschäft betreten, hieß es in dem Bericht. (APA)