Erster Tag Ich soll was über Henscheid schreiben. Immer, wenn ich früher Titanic las, sagte ich mir, irgendwann solltest du über Henscheid schreiben. Das hat sich mit der Zeit gelegt. Und jetzt das. Morgen ist er in Klagenfurt, hält an der Uni bei Manfred Moser, sofern ich dessen barocke Einladung richtig gedeutet habe, eine Art Doktorandenseminar. Bringt den Klagen- furtern kreatives Schreiben bei, behauptet Moser. Und ich soll mir das doch anschauen, quasi als Dissertationsrentner seit bald 20 Jahren. Führt eine feine Klinge, der Herr Professor Moser. Gut. Aber warum bringt Henscheid Klagenfurt das Schreiben bei? Und was hat einer, der seine Diss zusammenklempnern will, davon, dass ihm Henscheid zeigt, wie man schreibt? Fragen über Fragen. Was frag ich ihn überhaupt? Das sicher nicht. Auch nichts über Titanic, das könnt' ihm zu etikettisch vorkommen, besser etwas zu seinen Büchern, das haben alle Autoren gern. Da war doch noch Fußball, der Henscheid mag Fußball, das ist super. Oder war das der Gernhard? Nein, der Gernhard war das mit Der Habicht fraß die Wanderratte, nachdem er sie geschändet hatte. Henscheid ist der mit Warum Frau Grimhild Alberich außerehelich Gunst gewährte. Musikphilosophiekritik, in der Art eines animierten französischen Cousins des Herrn Adorno. Heiter, nicht witzig, wenn ich mich recht entsinne. Und sehr schön, was er über Fritz Wunderlichs "Müllerin" gesagt hat. Der Henscheid, nicht der Adorno. Na ja. Auf ins Internetz, die müssen mehr wissen. Also Fußball stimmt, Schach auch, da schau her, da macht sich einer über sein letztes Buch lustig, und was ist denn das? Henscheid mag Gernhard gar nicht, schreibt eine im Netz-Geschwätz, und sie muss es wissen, sie sei schließlich dabei gewesen. Da wär' ich aber schön in die Näpfe gestiegen, wenn ich gesagt hätte: "Herr Henscheid, ich bin ein Bewunderer ihrer stupenden Gebrauchslyrik", und dann wär' die wirklich gebraucht gewesen, nämlich vom Gernhard. Können schon was, die modernen Zeiten. Internetz! Da, noch etwas: Eine Frau Lacoste hat einem(r) Bartholmy mit ihrer Schilderung der Frühstücksgewohnheiten Henscheids ein Idol zerstört. Weil Bartholmy immer glaubte, "er (Henscheid) sei ein feiner Mensch." Weil Henscheid in den 80er Jahren... Sudelblätter...Geht in Ordnung, Sowieso, Genau...10:9 für Stroh..., also jetzt zerfleddert es, das Netz, Absturz. Schöne Scheiße. Sollte man verbieten, Internetz. Morgen blamiere ich mich, das hast du noch nicht gesehen. Henscheid, der große Eckhard. Und ich weiß nicht, was ich ihn fragen soll. Zweiter Tag Man soll sich nicht vorbereiten wollen. Natürlich mag Henscheid Gernhard, obwohl ich ihn nicht gefragt habe. Also nicht direkt. Aber so, wie er über ihn spricht, schätzt & achtet er ihn, wie wir das vom Idyllenaquarell der Väter der Neuen Frankfurter Schule her kennen. Die streiten nicht, die meucheln nicht, die sind ganz anders als der ganze Literaturbetrieb. Suaviter in modo, fortiter in re. Seit Jahrzehnten. Über die Neue Frankfurter Schule habe er den Klagenfurter Studenten auch erzählt, erzählt Henscheid, aber nicht vordringlich. Im theoretischen Teil seiner Veranstaltung geht es zunächst ein bisschen querbeet durch das Bildungsgärtlein, wobei Henscheid da und dort ein Kräutlein auszupft, unaufdringlich, aufmerksam. Weil er das Gespräch mit seinen Studenten nicht einfordert, ergibt es sich nebenbei, und was sie über das Verhältnis zwischen deutscher und österreichischer Literatur erfahren, was Henscheid über die kritisch-satirische Initialzündung Helmut Qualtinger oder die Funktionsweise des literarischen Skandals am Beispiel Thomas Bernhard zu sagen hat, verwandelt die Sekundärliteratur des distanzierten Historikers plaudernd in Primärliteratur des Zeitgenossen. Über den Zusammenhang zwischen Frankfurter Schule und der großen Eintracht Frankfurt, die dem deutschen Fußball die Gabe der Ironie als Mittel zur Selbsterkenntnis geschenkt hat, hätte Henscheid auch gerne erzählt. Aber zu Fußball hat keiner gefragt. Dritter Tag Work in progress. Henscheid liest einen seiner älteren Texte aus dem Jahr 1980, eine Österreich-Beschimpfung im Rahmen einer Titanic-Serie, welche die umfassende Schmähung europäischer Nationen auf der Basis des pejorativen Singulars abhandelte: Der Franzose, der Italiener und der Spanier werden vom Deutschen ausführlich gehöhnt, den Österreicher nahm sich Henscheid vor. Naturgemäß bildet ein Glanzpunkt nationaler Hybris den Ausgangspunkt seiner Suada, nämlich der Sieg Österreichs über Deutschland bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1978, genauer seine in jeder Hinsicht unvergessliche Vermittlung in Edi Fingers Radio-Übertragung. Was in Österreich als Rache für Königgrätz genommen wurde, nahm Henscheid als Belege endgültiger moralischer Verrottung und ethischen Bankrotts und fügte sie zu einer Schimpfparabel, an deren Klimax sich auch ihre Mittel auflösen: Die nicht mehr zu steigernde Übertreibung bricht auf eine Höhe herunter, die für den Betrachter als ironische Ausblickswarte wieder erkennbar und erklimmbar wird - eigentlich eine Hommage an Thomas Bernhard. Danach die Arbeiten der Studenten. Einer liest ein "Manifest des Irrationalen" vor, das als Spielanleitung für - ja wofür eigentlich? - eine Oper, eine Musikcollage oder ein Schauspiel mit Musik gedacht ist. Henscheid versucht eine formale Zuordnung des Textes, ist es eher eine Collage, eine Zitat-Montage, ein synästhetischer Versuch, dessen enigmatische Einsprengsel umsichtig freigelegt und im Dialog mit dem Autor entschlüsselt werden. Der merkt ganz offensichtlich nicht, dass ihm zu seinem Glück einer der schärfsten Kritiker des Metiers zeigt, wie sein Kunstwerk funktioniert, indem er ihm das Handwerkszeug der Kritik vorführt: Indem er ihm zeigt, wo gute Kritik ansetzt, beispielsweise an einer gelungenen Metapher, oder indem er ihm belegt, was mit Referentialität gemeint ist und wie daraus ästhetische Urteile abgeleitet werden. Ob ein Kritiker etwas als Plattitüde oder als gelungenes Bild bezeichnet, ist im Idealfall in seinem Erkennen des Gemachtseins eines Textes begründet - ein Vorgang, dessen Konsequenzen dieser Autor noch vor sich hat. Von Henscheid erfährt er lediglich, wie Kritik gemacht wird. Der Rest ist Schonung. Und Zeugnisverteilung, bei der Henscheid noch einmal die Speicherkapazität seiner "Festplatte" strapaziert und die Aufstellung nicht nur der deutschen, sondern auch der ungarischen Nationalmannschaft herbetet, die 1954 im Berner Wankdorfstadion das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft mit 2:3 verlor: Grosics, Buzansky, Lantos, Bozsik, Lorant, Zakarias, Czibor, Kocsis, Hidegkuti, Puskas und M.Toth. (Samo Kobenter - DER STANDARD, Album, Sa./So. 10./11.11.2001)