von Ronald Pohl
Wien - Sarah Kane hat in ihren vier, fünf Schock- und Schauerdramen, die sie zum Zeitpunkt ihres Selbstmordes 1999 28-jährig hinterlassen hat, nicht nur die Körper geschunden: die Leiber malträtiert, die Zungen herausgeschnitten, die Stimmen abgewürgt, die Seelen entblößt, die menschlichen Antriebe bis auf die Skelette abgemagert. In Wahrheit stellte ein sprödes Mädchen, unter Bedeckung eines blutroten Käppchens, mit Kummerfalten um den Mundwinkeln, dem großen, alles klein und gleich mahlenden Fleischwolf die müßige Frage nach dem Sinn des Lebens: Warum hasst du die Menschen so? Warum hassen die Menschen einander derart, dass sie noch im Moment der höchsten Verzückung einander sogleich an die Gurgel fahren? Rotkäppchen aber erhielt keine Antwort, oder sie suchte sie nur bei sich - was einen Suizid natürlich nicht hinreichend erklärt. Rotkäppchens Wissensdurst aber stillte kein "Gott", und der Fleischwolf, der an seine Stelle getreten war, redete nicht - er faschierte nur die Menschen zum immer gleichen Fleisch. Den Wissensdurst stillt auch nicht die Erstaufführung, die Michael Wallner im U3-Raum des Wiener Volkstheaters mit sprachlosem Behagen und spitzem Genussmund vorlegt. In der Klassik- Abteilung "Jean Racines siedend erhitzte Rhetorik" ausgeborgt Kanes einziges "Cover"-Drama, "Phaidras Liebe", borgt sich das Fleisch von der Klassikerbank, Abteilung: Jean Racines siedend erhitzte Rhetorik. Im U3-Raum grüßt die Mythenferne nur noch bühnenbaulich verrätselt: In weiter Ferne so nah stehen zwei Grabmausoleen nebeneinander, deren einer einem leeren Bassin ähnelt und Theseus' Hof vorstellt, hinter dessen kniehohen Wänden Phaidra (Isabel Martinez) ihre verzehrende Begierde nach dem unmanierlichen Stiefsohn Hippolytos ausbildet wie eine müßige Marotte, einen frivolen Tick.


Eine maghrebinische Staatsmanagerin im nadelgestreiften Kostüm, durchsticht ihr Blick die Zeiten wie eine Pergamenthülle: als sähe sie bis nach Mykene zurück. Doch Rotkäppchen blickte tiefer und fragte schärfer: Wer oder was stachelt die Begierde an? Warum verliebt sich der Mensch in ein fluchwürdiges Gegenüber? Und wo, halten zu Gnaden, wohnt denn eigentlich Gott? Nichts davon in Wallners routiniert heruntergezettelter Aufsageübung. Indes viel Stadttheater, mit Verve und Fellatio in tadelloser, auch chorischer Haltung absolviert.

Und so nimmt man nur den meerblauen Blick von Raphael von Bargens Hippolytos mit nach Hause: ein inwendiges Tasten und Lebenstraum-Suchen, Zähneknirschen und Angstschwitzen - der Versuch, sich und Kanes rastloses, ratloses Fragen aufs große, ganze Spiel zu setzen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 06.11. 2001)