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Jessica Hausner
Die junge österreichische Regisseurin Jessica Hausner legte heuer in Cannes eines der meistbeachteten Spielfilmdebüts vor: "Lovely Rita" porträtiert eine kleinbürgerliche Welt aus der Sicht eines Teenagers, der schließlich "den Rahmen sprengt". Claus Philipp sprach mit der Filmemacherin.


STANDARD: Ihr Film endet, gelinde gesagt, mit einer Familienkatastrophe: Die Titelheldin von Lovely Rita tötet ihre Eltern, nach einem Handlungsverlauf in einem Kleinbürgertum, wo das nicht unbedingt absehbar war. Ist Ihnen das wichtig, dass der Betrachter quasi nachträglich Ihren Film vom Ende her neu lesen und sehen und deuten muss?


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Hausner: Ja, schon. Es ist mir auch relativ wichtig, dass ich das Ende einer Geschichte kenne, bevor ich mit dem Drehbuchschreiben anfange. Insofern habe ich Lovely Rita für mich von Anfang an von hinten her erzählt. Die Art und Weise, wie es zu solchen Taten kommt, hat ja meistens, wie man in Zeitungen liest, etwas Beliebiges: Mich hat zum Film ja auch eine wahre Begebenheit inspiriert.

Es ist eine Mischung aus nachvollziehbaren Motivationen und einer Gelegenheit, die sich plötzlich für eine Gewalttat ergibt. Insofern habe ich versucht, den Film nicht zwanghaft logisch auf den Moment mit der Waffe in Ritas Hand hinzuführen. Aber es war mir wichtig, dass sie diesen Schritt "hinaus" macht, den Rahmen sprengt. Aber ihr Leidensdruck, oder wie auch immer man das nennen mag, steht natürlich in keinem Verhältnis zur Tat.

STANDARD: Man hat beim Sehen das Gefühl: Einerseits erinnert sich die Regisseurin an eine eigene Kindheit in den 70ern, andererseits ist da von der Musik her zum Beispiel schon eine klare Verortung im Heute.

Hausner: Das finde ich auch sehr entspannend: Dieses Gemischte, Zeitlose, Unklare. Wenn die Dinge nicht so harmonisch zusammen gehen, wie in diesen Wohnungen, wo der 70er-Jahre-Vorhang über dem neuen Sofa hängt. Es geht mir nicht darum, eine Ganzheit zu behaupten, sondern Geheimnisse anzudeuten - das, was dahinter liegt. Warum man einen Menschen und das, was er tun wird, nicht mehr einschätzen kann.

STANDARD: Rita ist Schülerin in einem katholischen Gymnasium. Warum?

Hausner: Einerseits war mir dieses Religionsthema wichtig. Wenn später jemand einen Mord begeht - was heißt das dann vielleicht für den: "Ich habe dir vergeben." Und in einer Szene sagt das auch eine Mitschülerin zu Rita. Rita sehnt sich ja auch danach, dass sie irgendetwas auffängt. Gleichzeitig fehlt das aber.

Der zweite Aspekt: Katholizismus spielt in Österreich eine gewichtige Rolle. Das weiß ich aus der eigenen Kindheit. Insofern war mir dieses Element schon aus der Perspektive des Realismus wichtig.

STANDARD: Wie gehen Sie beim Drehbuchschreiben vor?

Hausner: Zuerst versuche ich, die Struktur einer Geschichte zu verstehen, und sie so weit zu verinnerlichen, dass ich einmal eine runde Seite dazu zustande bringe. Dann gehe ich eher unchronologisch auf einzelne Szenen los. Auch hier: Patchwork, das liegt mir.

STANDARD: Wobei die Laiendarsteller ja noch einmal ein eigenes Flair in die Sprache und den szenischen Gestus bringen. Hat das viel am Originaldrehbuch verändert?

Hausner: Auf jeden Fall. Ich merkte, der oder die jeweilige würde etwas so nie sagen. Und da musste ich dann den Text überdenken. Es war speziell bei den Erwachsenen übrigens gar nicht so einfach, Darsteller zu finden. Und es war wichtig, denen das Gefühl zu geben, dass sie sich fallen lassen können, ohne denunziert zu werden. Die Dreharbeiten waren ein Annäherungsprozess. Szene für Szene konnten sich die Darsteller eigene Möglichkeiten erschließen und erarbeiten. Dafür brauchten wir jeweils bis zu dreißig Takes.

STANDARD: Barbara Osika, die Hauptdarstellerin, ist ja ein besonderes Naturtalent.

Hausner: Was mich bei ihr schon beim Casting so faszinierte: Es gibt da diese Stelle, wo sie sagen muss: "Es tut mir leid." Alle anderen Mädchen haben das irgendwie klar interpretierbar ausgesprochen: Betroffen oder patzig. Aber bei ihr weiß man eigentlich nie, woran man ist und wie sie das jetzt meint.

STANDARD: Jugend in Österreich wurde zuletzt selten in kleinbürgerlichem Milieu porträtiert. Was interessierte Sie an dieser Lebenswelt?

Hausner: Es ist eine Gesellschaftsschicht, der einfach viele angehören. Sie hat eine große Häufigkeit. Das war ein Beweggrund. Den Leuten aufs Maul zu schauen, ist auch etwas, das ich gerne mag. Und das passiert bei uns im Kino eher selten.

STANDARD: Wie stehen Sie eigentlich zu der gegenwärtigen Debatte über Inhalte und Ästhetiken im heimischen Kino, wie sie zuletzt in den Kontroversen zwischen Hans Hurch und Michael Haneke angerissen wurde? Hausner : Ich finde es eigentlich arg, wie das jetzt von den Medien ausgeschlachtet wird. Ich verstehe, wenn Hurch und Haneke quasi privat miteinander Probleme haben, und ich kann die jeweiligen Standpunkte auch nachvollziehen - aber das nationale Problem daran sehe ich nicht. Alle stehen jetzt wieder leidend da: Wieder ein Konflikt! Gottseidank! Ich habe ja das Gefühl, dass sich viel zum Besseren geändert hat. Früher hat das oft gestimmt: Österreichischer Film ist langweilig. Heute ist das nicht mehr so oft der Fall. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25./26. 10. 2001)