Auch heuer bot die "Viennale" eine Fülle an lohnenden Filmangeboten jenseits kurzlebiger Medienbilder und Kinomassenware. Der Gang durch ein Filmfestival lässt sich mit einem Bummel durch eine Shoppingmall vergleichen. Harun Farocki hat das so ähnlich einmal behauptet: Es gibt gewisse (Marken-)Namen, Sortiments, vielleicht sogar Moden, die einem als Orientierungshilfe dienen, von denen man fast automatisch angezogen wird, und am Ende der Veranstaltung hat man sich mit einer Unmenge an neuen Bildern ausgestattet. Manche davon verharren im Kopf, verdichten sich mit der Zeit, andere sitzen kurzfristig, wirken dann aber mit einem Mal zu eng. Nun ist die Viennale kein Filmfestival des Marktes, der schnelllebigen Moden, nicht allzu viele Filme finden regulär ins Kino. Und an den Rändern, in Spezialprogrammen, Tributes oder Hommagen wird diese Ausrichtung gewissermaßen konkret: Ein solches Ereignis war heuer etwa die Wiederaufführung von Johan van der Keukens Nord-Süd-Trilogie . Der Dokumentarfilmemacher Hartmut Bitomsky, dem vergangenes Jahr ein Tribute gewidmet war, hielt dazu - im leider allzu intimen Kreis - eine Lecture. Er würdigte den im letzten Jänner verstorbenen holländischen Regisseur mit einem Vortrag, der rund um Fragen des Standpunkts des Filmemachers kreiste, seiner moralischen Haltung gegenüber der Welt verpflichtet war. Schnitte, hieß es da zum Beispiel, müsse man im ursprünglichen Sinn auch als etwas verstehen, das Bilder voneinander trennt, die Differenz - in van der Keukens Fall jene zwischen Erster und Dritter Welt - aufrechterhält, ohne wechselseitige Bedingtheiten auszuschließen. Von solchen Schnitten, die der Komplexität zuarbeiten, gab es auf der Viennale viele, vor allem im Dokumentarfilm-Bereich, der heuer besonders stark war und als Genregröße schon gar nicht mehr angemessen erscheint. Ob Jonas Mekas' As I Was Moving Ahead Occassionally I Saw Brief Glimpses of Beauty , Claude Lanzmanns Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures oder auch Arbeiten von Karin Jurschick und Johannes Holzhausen: Neue Sichtweisen Bei allen Unterschieden wurden hier Sichtweisen und Zusammenhänge vermittelt, die sich nicht zuletzt der fatalen "Unbestimmtheit" der Bilder aus Afghanistan widersetzen. Spannend wäre es gewesen, zu solchen Problemen der Repräsentation - über die Eröffnungsrede Klaus Theweleits hinausgehend - auch der ein oder anderen Diskussion zu folgen. So wie man sich eine Vertiefung der Debatte um den "Österreichischen Film" erhoffen durfte, die mehr als bisher auf inhaltliche oder auch ästhetische Fragen Rücksicht nimmt. Welche Bilder bleiben? Natürlich die vollen Kinosäle, die beweisen, dass die Viennale mit ihrer Ausrichtung auf oft wenig bekannte Filmländer auch den nötigen Zuspruch findet. Sicherlich ein Höhepunkt: Fay Wray, die erst nach der Vorführung von The Wedding March auf die Bühne kam und dabei den Tränen nahe war. Oder, um noch einen Lieblingsfilm zu nennen, Enid (Thora Birch) in Terry Zwigoffs Ghost World , einem Film über die Begrenztheiten der eigenen Wahrnehmung. Die Suburbia mit ihren Retro-Diners und Shoppingmalls scheint darin niemals zu enden. Doch am Ende hält ein Bus an einer aufgelassenen Haltestelle, Enid steigt ein und fährt davon ... (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30. 10. 2001)