Peter Nestler war und ist Arbeiter (Drucker, Seefahrer, Holzfäller, Fabrikarbeiter). Und er zeigt Arbeit: industrielle, häusliche oder handwerkliche Arbeit - den Korbflechter in Budapest in all seinen Bewegungen, die Frau beim Nudelschneiden, Wasser-und Dampfarbeiter. Der Maler Wolf Huber (1485-1553), auf den er in Uppför Donau (1969) hinweist, ist nicht mehr fromm und nicht mehr Diener der Kirche. Sakralgegenstände sind ihrer Funktion beraubt, für ihn nur noch Gesellenstücke. Wer weiß schon, wie viel in Barockkirchen von überzeugten Atheisten gemalt wurde? Wolf Huber stellt die Honorarfrage, engagiert sich bei Aufständischen. Das hört man nicht in österreichischen Schulen. Nestlers Soziogramme definieren den Verwert-und Verderbprozess von Ökonomie und Bürokratie: Zigeuner, Arbeiter, auch Fischer in Nordvietnam stehen unter Zwängen, die als naturhaft verkauft werden, wie die Zwänge, denen Flussströme unterliegen. Die Objekte sind aber nicht von Natur, sondern von Politik her verdorben, fehldeterminiert, verbraucht. So die Zigeuner in Att vara zigenare (1970): In deutschen Städten wird ihnen im Wiederaufbau der Rand der Stadt zugewiesen, ohne Wasseranschluss, in einer anderen deutschen Großstadt fließt ein Kanal am ihnen zugewiesenen Areal vorbei und legt Gestank über ihr Leben. Im Burgenland erzählt ein Mann Nestler von der Zeit in Straflagern, von den Gesundheitsschäden, die jetzt noch nachwirken, von der geringen Wiedergutmachung. Und in seinem Er-zählen ruft er durch die offene Tür in die Küche, wo man nur die Beine seiner Frau sieht, hinein, sie möge doch herauskommen. Doch sie, an einem offensichtlich langweiligen Tag, der sich nicht von vielen ähnlichen Tagen unterscheidet: "Ich habe keine Zeit." Vor allem in diesem Zigeunerfilm arbeitet Nestler mit den Kontrasten zwischen Klischee und realem Leben, realem Empfinden, Entbehren: Ein sehr vornehm wirkender älterer Mann, auch er hat nur knapp die Nazilager überlebt, erzählt von Erfahrungen auf Ämtern, die, sobald bekannt wurde, dass er ein Zigeuner sei, immer fragten, ob er auch Deutsch spreche. Nestlers Stimme: entschieden und apodiktisch. Der Sprechgestus: lakonisch. Er versucht nicht, das Publikum zu kitzeln. Und das Publikum war oft verstimmt: Im Katalog der Constantin-Ausstellung Junger deutscher Film kam er nicht vor, denn: "Wir wollen nur Leute, die das Kino schmackhaft machen." Peter Nestler sprengt die Konturen. In einer Schweizer Schulklasse dreht er 1963 Aufsätze: "Den Film Aufsätze habe ich zusammen mit dem Filmemacher Kurt Ulrich gedreht, damals Lehrer in Frutigen im Berner Oberland. Wir saßen mit in der Klasse, erfuhren, wie ein Schultag im Winter abläuft." Vorgelesen werden von den Kinderstimmen ihre Aufsätze. Sie sind noch nicht durch die Schule in feste Lehrervorstellungen von gewöhnlichem Denken gepresst, sie schreiben noch Aufsätze, die sonst nur Robert Walser schreiben könnte. Der wurde allerdings in der Schweiz auch schnell interniert. (Ilse Aichinger, DER STANDARD, Printausgabe, 29.10.2001)