Es rast die Kamera gen Montmartre, es lärmen Zitate der Popmusik, es singen, lieben und leiden Nicole Kidman und Ewan McGregor, dass es nur so eine Art hat: "Moulin Rouge" von Baz Luhrmann will nun auch in den heimischen Kinos ein Dauerhöhepunkt sein - und ist doch nur eine aufgeblasene Peinlichkeit.


Wien - Eine der lustvollsten Ausprägungen des modernen Liebesbriefs ist wohl die speziell für den neuen Schwarm zusammengestellte Musikkassette oder CD. Schnell trennt sich dann beim Anhören die Spreu vom Weizen.

Verfügt der oder die Geliebte nicht nur über Geschmack, sondern auch über das richtige Timing? Von Auswahl und Abfolge ist leicht auf weitere Beziehungsdramen zu schließen! Es gibt ja zum Beispiel Leute, die beginnen so eine Musikbotschaft mit Pale Blue Eyes von Velvet Underground, also ganz hoch oben und landen irgendwann einmal bei Elton Johns Candle in the Wind oder gar Celine Dion! Wobei gegen Celine Dion vorschnell gar nichts zu sagen ist: Es stellt sich nur die Frage, in welchem Kontext man sie auf die Nervenkostüme des oder der Geliebten loslässt.

Das klingt kompliziert? Das ist kompliziert! Binnen Minuten entlarvt sich die Hochstapelei in Sachen Leidenschaft selbst. (Davon abgesehen, dass man so eine Song-Kompilation am Anfang eher unaufdringlich, aber doch intensiv angehen muss, um sich erst dann sukzessive, aber nicht penetrant zu steigern. Pale Blue Eyes als Auftakt: ganz schlecht! Pale Blue Eyes ganz am Ende: fast zu viel. Sie sehen, man lernt was, wenn man den STANDARD liest.)

Permanent high

Der australische Regisseur Baz Luhrmann ist nun vermutlich einer der allerschlechtesten Musikkassettenzusammensteller aller Zeiten. Dieser Mann, gegenüber dessen Romeo und Julia mit Leonardo DiCaprio als schießwütigem Jungtragöden wir sogar Zeffirellis Hamlet mit Mel Gibson den Vorzug geben - dieser Mann denkt leider nur in Höhepunkten. Er hat beschlossen, vom Hochplateau der Ekstase erst gar nicht mehr herunterzusteigen (es fragt sich nur, wie er da raufkam): Und Höhepunkt - das heißt, jederzeit alles geben. Die Betonung liegt auf: alles. Und "alles" inkludiert leider wirklich alles.

Luhrmanns neuer Film Moulin Rouge ist ein Musical als zerdehnter Videoclip und bedient sich dabei überall: David Bowie und Madonna gehen da also nahtlos über in All You Need Is Love und Children of the Revolution. Gesungen wird das alles, als sei es Evita. Und während wir darüber nachdenken sollen, ob nicht das Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der Glam-Rock der 70er wahnsinnig viel gemein haben, rast die Kamera über Studiomodelle von Paris - immer in Richtung Pigalle und Montmartre, dass es nur so eine Art hat. Fetz!

Ach ja, und dann erzählt der Film noch so etwas wie eine Romanze, und zwar eine tragische: Ein armer Dichter (Ewan McGregor: Er singt, als ginge es um den nächsten Vertrag für Perlweiß-Werbespots) liebt eine lungenkranke Diva des Varieté (Nicole Kidman: Sie singt, als hätte man ihr das eben erst mit großem Aufwand beigebracht, kurz: Sie spielt, dass sie singt). Und bevor es zum großen Bluthusten kommt, kokettiert Moulin Rouge auch noch mit der Systemkritik, dass alle Kunst letztlich von Geschäftemachern ausgebeutet wird. Aber: Nur die Liebe zählt.

Ah, eine so genannte Extravaganza, eine zeitgenössische Oper, mögen nun einige jubeln: geschmacklos, warum nicht? Guter Trash ist oft geschmacklos. Das Problem von Baz Luhrmanns Film ist nur: Er ist eben kein Trash -
a) weil jemand wie Nicole Kidman zum Beispiel nur "Oscar!" denkt, wenn sie singen spielt;
b) weil Luhrmann gar nicht an eine Würde und Ernsthaftigkeit im Pop-Mülleimer glaubt, sondern bestenfalls ironisch herumfleddert und plündert;
c) weil Moulin Rouge klar anzusehen ist, worauf, weniger im Sinne der Leidenschaft als im Dienste des Profits, abgezielt wird: Es geht um eine Trademark.

Jede Wette: Spätestens in zehn Jahren sehen wir das alles als Adaption - zuerst am Broadway und dann auch als Produktion der Vereinigten Bühnen Wien: Als Megamusical, in dem jede Nummer ein Hit ist, weil es einfach nur aus Hitzitaten besteht. Dazu schon jetzt: Soundtrack, Mode, Videoclips auf MTV mit Christina Aguilera - auch so ein neues Popwunder, das sich nur mit Zweitverwertungen begnügt, darüber aber übersieht, dass Originalität manchmal auch so etwas wie Entkräftung signalisiert.

Ein Kritiker hat Moulin Rouge kürzlich einen "Blödfilm" genannt. Das ist an dieser Stelle voll und ganz zu unterschreiben. Noch schlimmer als blöd: Diese unsägliche Produktion behauptet, permanent Herzblut zu vergießen - und geht doch nie zu Herzen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20./21. 10. 2001)