Exotik, Lust und List in Isabel Allendes neuem Roman "Porträt in
Sepia"
,
Der Titel verweist schon auf Nostalgisches: ein vergilbtes Porträt in Sepia ist
Angelpunkt einer gefühligen Familiensaga, die 1880 in San Francisco mit der Geburt
eines Mädchens beginnt. Die kleine Aurora verliert Stunden nach ihrer Geburt die
Mutter, sie hat auch keinen Vater. Denn der verleugnet seine Tochter und zieht es vor,
weiterhin das Leben eines Playboys zu führen.
Beeindruckende Großmütter
Die starken Figuren in Allendes Roman sind wieder einmal die Frauen, diesmal in
Gestalt beeindruckender Großmütter. Und die streiten sich um das Kleinkind. Aurora
verbleibt ihre ersten Lebensjahre in der Familie ihrer Mutter, die eine Halbchinesin
gewesen ist. Ihre Erinnerung an die Menschen von Chinatown verblassen immer
mehr und werden zu bloßen Schemen, denn bald schon wird sie ihrer Großmutter
väterlicherseits übergeben, der kinderlosen, exzentrischen Paulina del Valle. Diese
Matriarchin, die aus Chile stammt, lenkt mit Geschick und Härte ein Finanzimperium;
ihre Enkelin liebt sie abgöttisch und lässt ihr alle Freiheit.
Das bedeutet zuallererst, dass sie das Kind nicht im Korsett einer bigotten Erziehung
verkümmern, sondern ihm Privatunterricht erteilen lässt. Als Aurora eine Kamera
geschenkt bekommt, beginnt sie sich intensiv mit der Fotografie zu beschäftigen, eine
Leidenschaft, die sie ihr Leben lang nicht aufgeben wird. Über ihre geheimnisvolle
Herkunft und den Vater erfährt Aurora nichts. Ihre Wurzeln wird sie erst spät, nach einer
fehlgeschlagenen Ehe mit einem chilenischen Viehzüchter und dem Tod der
Matriarchin, erforschen.
Allende zieht alle ihre routinierten Register:
die Exotik eines Lebens
zwischen Kalifornien und Chile, die Belle Epoque, rebellische Frauen, List, Kitsch,
Lust und Leidenschaft, Bürgerkrieg und Putschversuche, geheimnisumwitterte
Stammbäume , ein "emanzipiertes" Mädchen, mit dem sich die Leserinnen von heute
identifizieren können, treulose Schwägerinnen und edle Huren, ehrbare viktorianische
Jungfern, die wüste pornografische Romane schreiben, ein bißchen Zeitgeschichte,
sowie tapfere Mütter mit fünfzehn Kindern, die für das Frauenwahlrecht streiten.
Und das alles ohne Ecken und Kanten aber mit einiger Betulichkeit: Unterhaltung für
die Damen gebildeter Stände.
(Von Ingeborg Sperl - DER STANDARD, Print, Album,
29.09.2001)
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