Suhrkamp
Der Titel verweist schon auf Nostalgisches: ein vergilbtes Porträt in Sepia ist Angelpunkt einer gefühligen Familiensaga, die 1880 in San Francisco mit der Geburt eines Mädchens beginnt. Die kleine Aurora verliert Stunden nach ihrer Geburt die Mutter, sie hat auch keinen Vater. Denn der verleugnet seine Tochter und zieht es vor, weiterhin das Leben eines Playboys zu führen. Beeindruckende Großmütter Die starken Figuren in Allendes Roman sind wieder einmal die Frauen, diesmal in Gestalt beeindruckender Großmütter. Und die streiten sich um das Kleinkind. Aurora verbleibt ihre ersten Lebensjahre in der Familie ihrer Mutter, die eine Halbchinesin gewesen ist. Ihre Erinnerung an die Menschen von Chinatown verblassen immer mehr und werden zu bloßen Schemen, denn bald schon wird sie ihrer Großmutter väterlicherseits übergeben, der kinderlosen, exzentrischen Paulina del Valle. Diese Matriarchin, die aus Chile stammt, lenkt mit Geschick und Härte ein Finanzimperium; ihre Enkelin liebt sie abgöttisch und lässt ihr alle Freiheit. Das bedeutet zuallererst, dass sie das Kind nicht im Korsett einer bigotten Erziehung verkümmern, sondern ihm Privatunterricht erteilen lässt. Als Aurora eine Kamera geschenkt bekommt, beginnt sie sich intensiv mit der Fotografie zu beschäftigen, eine Leidenschaft, die sie ihr Leben lang nicht aufgeben wird. Über ihre geheimnisvolle Herkunft und den Vater erfährt Aurora nichts. Ihre Wurzeln wird sie erst spät, nach einer fehlgeschlagenen Ehe mit einem chilenischen Viehzüchter und dem Tod der Matriarchin, erforschen. Allende zieht alle ihre routinierten Register: die Exotik eines Lebens zwischen Kalifornien und Chile, die Belle Epoque, rebellische Frauen, List, Kitsch, Lust und Leidenschaft, Bürgerkrieg und Putschversuche, geheimnisumwitterte Stammbäume , ein "emanzipiertes" Mädchen, mit dem sich die Leserinnen von heute identifizieren können, treulose Schwägerinnen und edle Huren, ehrbare viktorianische Jungfern, die wüste pornografische Romane schreiben, ein bißchen Zeitgeschichte, sowie tapfere Mütter mit fünfzehn Kindern, die für das Frauenwahlrecht streiten. Und das alles ohne Ecken und Kanten aber mit einiger Betulichkeit: Unterhaltung für die Damen gebildeter Stände. (Von Ingeborg Sperl - DER STANDARD, Print, Album, 29.09.2001)