Geboren am 5. Dezember 1901, gestorben kurz nach seinem 65. Geburtstag: Walt Disney ist die überragende amerikanische Figur des zwanzigsten Jahrhunderts.
von Michael Freund
Was am vergangenen Jahrhundert amerikanisch war, hat niemand so perfekt verkörpert wie Walter Elias Disney. Neben ihm hat vielleicht noch Louis Armstrong Platz, die überragende Figur aus der Frühzeit des Jazz, auch er (entgegen eigenen Angaben) im Jahr 1901 geboren, im Tiefen Süden. Chaplin würde auch in die Galerie passen, ähnlich ikonenhaft wie die anderen beiden, zwölf Jahre älter allerdings und aus England zugewandert, die überragendste Figur aus der Zeit, als die amerikanischen Bilder laufen lernten. Disney aber, der Sohn des Mittelwestens, steht für etwas noch Umfassenderes: Er erträumte, schuf, organisierte und managte ein Imperium des Zeichentrickfilms, in weiterer Folge der Comics-Kunst, der Spielfilme, der Fernsehserien, der Themenparks, kurz und neudeutsch: des Entertainments. Wie jeder moderne Imperator und besser als die meisten verstand er es, diesem Gesamtgeschäftskunstwerk seinen Namen aufzudrücken und ihn mit einem Logo zu verbinden - mit Micky Maus, der bekanntesten Silhouette weltweit. Zweifellos inszenierte Disney auch und vor allem sich selbst. Das hatte zur Folge, dass die Gutgläubigen unter seinen Kunden - also die Mehrheit der Menschheit - ihn tatsächlich als den guten Onkel Walt mit dem großen Herzen für Kinder sahen. Den beinharten Manager, die Kehrseite der amerikanischen Glücksmedaille, kannte man nur firmenintern, und da drang nichts heraus, dafür sorgte die Macht der Disney Company. Der Vernaderer unamerikanischer Umtriebe schließlich war nur aus FBI-Akten ersichtlich. In der ersten Zeit nach Disneys Tod am 15. Dezember 1966 wurde nichts, wenn nicht Gutes über ihn veröffentlicht. Doch schon mit Richard Schickels Buch The Disney Version (1968, erweitert 1985, deutsch: Disneys Welt, 1997) erschien die erste unautorisierte Biografie des Mannes. Das Pendel schlug nun in die andere, ideologiekritische Richtung aus; Schickel beleuchtete die Schattenseiten des kalifornischen "Sonnenstaates" und kam zur verstörenden Conclusio, dass der Faschismus, kommt er einmal nach Amerika, "Mickymaus-Ohren tragen wird". Eine konkretere Verknüpfung zwischen vorgeblicher Idylle und reaktionärer Politik analysierten die Autoren Ariel Dorfman (bekannt geworden unter anderem durch das Stück "Der Tod und das Mädchen") und Armand Mattelart (heute Professor für Kommunikation in Paris): 1972 erschien ihr in Allendes Chiles verfasstes Buch Para Leer al Pato Donald (How to Read Donald Duck, Taschenbuch 1984), über die, so der Untertitel, "imperialistische Ideologie in den Disney Comics" in Lateinamerika. Auch den Mann hinter der Maus traf immer häufiger ein negatives Urteil. Das Publikum lernte, ihn als üblen Drahtzieher und Ausbeuter wahrzunehmen. Dazu passten Biografien wie Walt Disney von Marc Eliot (1993, deutsch 1994, vergriffen), der ihn als "Hollywood's dark prince", als "Genie im Zwielicht" vorführte. Es wurde langsam Zeit für eine Revision des Revisionismus. Zwei Bücher, rechtzeitig zu Disneys Hundertstem erschienen, bemühen sich um eine Neueinschätzung bzw. um eine Fortschreibung jenseits der bekannten Fakten. Andreas Platthaus, FAZ-Feuilletonchef und als Ehren-Präsidente(sic!) der Donaldisten ausgewiesener Kenner der Materie, legt eine Einschätzung des Mannes vor, die sich wieder auf seine Pioniertaten besinnt, ohne in Hagiografie zu verfallen. Von Mann & Maus. Die Welt des Walt Disney (ös 291,-/EURO 21,15/256 Seiten, Henschel, Berlin 2001) beschreibt, was der Mann alles bewegt hat - in jedem Sinn des Wortes: Die animation, der Zeichentrick und wörtlich die Beseelung, sei Disneys creatio ex nihilis gewesen, ein Phantasiereich nach eigenem Gutdünken. In virtuoser Weise befreit Platthaus die kreativen Arbeiten des Studios von ihren späteren Merchandising-Speckschichten und belegt, wie Disneys Mission ihn zu den erstaunlichsten Neuerungen im Metier angetrieben hat. Er führt dem Leser die Trickfilme quasi Bild für Bild vor und lässt ihn nicht nur den technischen Fortschritt erleben, sondern auch das ästhetische Neuland, das die Figuren jeweils betraten: sorgfältige Charakterisierungen, frühe Nutzung des Tonfilms, die an klassischen Meistern geschulte Nuancierung der Farben (welchen die Illustrationen im Buch leider gar nicht gerecht werden), auch das genaue Studium von Tierbewegungen - wobei immer berücksichtigt wurde, dass dies nur der Ausgangspunkt für die Erschaffung von hyperrealen Szenen sein konnte. Bei aller beredten Zuneigung zu den Produkten Marke Disney lässt Platthaus nie den firmen- und gesellschaftspolitischen Rahmen außer Acht. So zeigt er, wie allzu avancierte und bis ins Psychedelische experimentelle Arbeiten (Paradebeispiel: Fantasia) zurückgepfiffen wurden, denn "Allen wohl und keinem wehe - solange es dem Geschäft nutzte." Das bedeutete letztlich eine Trivialisierung und Banalisierung seines Ideals, siehe Disneyland und Nachfolger. Trotzdem oder gerade deswegen sieht der Autor den Nimbus des Mäusemannes zu Recht ins 21. Jahrhundert nachwirken. Liebe, enttäuschte Liebe zum Studio ist der Grund, warum Wilhelm Dantine viele Jahre lang hinter Walt Disney her ist, ihn schließlich in seinem Park in Hollywood konfrontiert und damit möglicherweise das Ende des Trick-Tycoons beschleunigt. Dantine, 1936 in Wien geboren, ist der erfundene Ich-Erzähler in der zweiten Neuerscheinung zu Onkel Walts Hundertstem. Der König von Amerika von Peter Stephan Jungk (öS 271,-/EURO 19,17/248 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart 2001) beginnt mit einem Besuch des alten Disney in seinem Kindheitsdorf Marceline, Missouri (das übrigens auf halbem Weg zwischen Hannibal - Tom Sawyer! - und Kansas - Wizard of Oz! - liegt). Er eröffnet mit seinem Bruder Roy, dem Finanzgenie, ein Schwimmbad und lässt sich gebührend feiern. Seine Geschichte wird von da an rückblickend aufgerollt, durch Erinnerungen, dokumentarisch belegte Zwischenfälle, vor allem aber durch die Linse des gefeuerten Trickzeichners Dantine, den Jungk als eine Art potenzielles Alter Ego des großen Disney entworfen hat (siehe auch die Initialen) - sozusagen die glücklose Variante des amerikanischen Traums. Jungk wollte mit dieser Konstruktion die Fesseln des rein Deskriptiven zugunsten einer biographie romancée lösen (vgl. das Interview rechts). Im Falle Disney eine reizvolle Aufgabe, weil erstens der Mythos sowieso ins nicht Reale ausufert und zweitens vieles sich gut erfinden lässt, auch wenn es nicht nachweislich so passiert ist. Also geht der Autor über die New-Journalism-Methode der erdachten Dialoge hinaus und inszeniert ganze Lebensabschnitte bis hin zu möglichen, aber nicht erwiesenen Liebschaften. Das liest sich authentisch und streckenweise sehr amüsant. Trotzdem möchte man manchmal wissen, ob es sich auch so zugetragen hat: Wie gut war etwa der Kontakt Disneys mit dem Architekten und Shopping-Mall-Erfinder Victor Gruen wirklich? Hat sich Chaplin tatsächlich mit dem Widersacher versöhnt? So sollte man das Buch im Tandem mit einer "Nur"-Biografie wie der von Platthaus lesen, und diesem Buch wiederum wünscht man eine besser illustrierte neue Ausgabe. Zusammen sind sie ein echter Gewinn. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8./10.9. 2001)
siehe auch:
Ich war in Entenhausen
Der erste biografische Roman über den "König von Amerika": Walt Disney

Erfüllung eines Comic-Traums
Eine Reise nach Disneyland