Salzburg - Fast fühlte man sich im Kleinen Haus in gute alte
Donaueschinger Musiktagezeiten zurückversetzt: zwei vokale Solostimmen (Julie
Moffat, Matthias Klink), eine - ebenfalls aus früheren Tagen wohl bekannte -
Solo- und Piccoloflötistin (Roswitha Staege), ein Posaunist (Uwe Dierksen), das
SWR Vokalensemble Stuttgart sowie das bis zum heutigen Tag für
Donaueschingen haftende SWR-Sinfonieorchester zu Baden-Baden (und Freiburg) auf
dem Podium, dazu Live-Elektronik und Keybord/Synthesizer: der ganze Apparat des
Avancierten aus dem partiellen Geist des Gestrigen unter der Leitung von Sylvain
Cambreling, Chefdirigent des Gastorchesters, dem man völlig zu Recht den
Europäischen Dirigentenpreis als Anerkennung für seine Verdienste um
die Musik der Gegenwart verliehen hat. Was wäre schließlich die
Musikszene unserer Tage, gäbe es nicht Charaktere wie ihn, für die
komplizierte, schwierig zu dechiffrierende Partituren nicht nur ein bezahltes
Ärgernis, sondern ein echtes Anliegen sind.
Mit Hans Zenders anspruchsvoller Vertonung des König Salomo
zugeschriebenen Hoheliedes brachte Cambreling zum Ausklang des
Landesmann-Dezenniums ein fesselndes Zeugnis subjektiver Geschichtsschreibung
in einer ebenso feingliedrigen wie kräftigen musikalischen Umsetzung nach
Salzburg.
Dem Hörer wird Zenders musikgeschichtliche Wühlarbeit im weiten
Faltenwurf des Sagenhaften und des Moralphilosophischen insofern erleichtert, als
dieser dem Lied der Lieder (Shir Hashirim) klar gezeichnete
musikalische Gestalten mitgegeben hat, gewissermaßen klangleibhaftige
Leitmotive. Hier nun erneut wäre das Verdienst Cambrelings herauszustreichen,
das Ensemble so wach zu erhalten, dass sich Zenders wundersames
Altertumsgebäude wie eine helle, lichtdurchflutete Architektur von heute
erschließt. - Ein wichtiger Festspielabend, dessen Kosten man am besten im
Sinne essenzieller Bereicherung bilanzieren sollte.
(DER STANDARD, Print, 1.09. 2001)