Welche äußeren Voraussetzungen gegeben sein müssten, um ein intaktes Heimatbewusstsein entstehen zu lassen, ist gar nicht so schwer zu sagen. Hält man sich an die 20 Beiträger zu dem kürzlich im Czernin Verlag erschienenen Buch Meine Wurzeln sind anderswo. Österreichische Identitäten, dann wäre etwa von Folgendem auszugehen: Dass ein Mensch sich irgendwo zu Hause fühlt, setzt erstens voraus, dass er zu diesem Ort eine insgesamt positive emotionelle Bindung aufbauen konnte, und zweitens, dass ihm das aus dieser Bindung erwachsende Zugehörigkeitsgefühl von denjenigen zumindest mehrheitlich zugestanden wird, die es mit ihm teilen. Offensichtlich verfügt das intakte Heimatbewusstsein über eine nostalgische Facette. Erhard Busek weiß selbst, dass die ehemaligen Häuser im Wiener Liechtenthal unerträglich feuchte Mauern hatten. Und doch ist es der Abriss dieser Häuser, der die leichte Wehmut erzeugt, die man heraushört, wenn er die Welt seiner Kindheit, noch mit ebendiesen Häusern versehen, vor sich und dem Leser erstehen lässt. Es ist wohl gar nicht möglich, ohne solchen bittersüßen Beigeschmack die jeweilige Heimat zu beschwören, denn weder bleiben irgendwo auf der Welt die Ortsbilder über ganze Menschenleben hinweg unverändert, noch die Heimatbewussten selbst. Es ist die Einsicht in die stetige Veränderung und damit Vergänglichkeit der Welt und unser selbst, die schon den schwarzen Flor über das Bild hängt, das wir von unserem Zuhause zu hegen vermögen. Problem Heimat Aber Erhard Busek, dessen Vorfahren von Deutschland, wo sie noch Buseck hießen, über Mähren nach Wien kamen, ist besser daran als viele andere. Eine tschechische oder gar deutsche Abkunft wurde und wird in Österreich weit mehr toleriert als eine slowenische (Wolfgang Petritsch, Lojze Wieser, Thaddaeus Ropac), eine kroatische (Terezija Stoisits) und vor allem als eine jüdische (Verena Krausnecker, Helene Maimann, Ariel Muzicant, Ruth Wodak). In all diesen Fällen tritt die doppelte Malaise im Sinn des eingangs Gesagten hinzu: Die Erinnerung an das Erlebte macht eine positive emotionelle Bindung an Österreich als "Heimat" schwer bis unmöglich, und jeden Versuch eines individuell-biografischen Anspruches auf Österreich als "Heimat" stören aggressive Noch-Minderheiten durch ideologische Besetzungen der Heimat Österreich als einer nicht slowenischen, nicht kroatischen, nicht jüdischen, wozu dann im Bedarfsfall selbstverständlich noch jederzeit nicht rumänisch (Ioan Holender), nicht türkisch (Hikmet Kayahan) oder nicht serbisch (Peter Vujica) kommen können. In ihrer Summe stellen die 20 in Stil und Ansatz sehr divergenten Texte dem heutigen Österreich ein unschönes Zeugnis aus. Die kleinen Realien aus all den Erinnerungen an Kindheit, Vertreibung oder Aufnahme, an das Leben als "Fremde/Fremder" in diesem Land wiegen schwerer als alle politischen Lippenbekenntnisse zur Toleranz. Es ist insofern nicht nur ein hochinteressantes, sondern auch ein hochbrisantes Buch, dem man ein paar Mängel wie die weniger sorgfältige Lektorierung, das nicht gerade heißbemühte Vorwort von Herausgeberin Barbara Coudenhove-Kalergi und sogar den problematischen Titel nachsieht. (Was Letzteren betrifft, besteht Terezija Stoisits in ihrem Beitrag zu Recht darauf, dass ihre Wurzeln eben gerade nicht "anderswo" liegen. Während Franz Koessler besser in ein gleichartiges Identitäten-Mosaik für Italien passen würde.) Global Village Was mit der Intoleranz geschieht, wenn ihr die Schubladen abhanden kommen, sei dahingestellt. In Luft auflösen wird sie sich kaum, nur weil ein paar Grenzbalken beseitigt werden. Bedenkenswert ist ungeachtet dessen der bei Ioan Holender, Tom Appleton und vor allem Ruth Wodak angedachte Umstand, dass die Welt kleiner und kleiner wird. Das Schrumpfprodukt heißt Global Village. Mobilität und Flexibilität machen darin alle zu Grenzgängern. Und irgendeine Zugehörigkeit ohne das gleichzeitige Bewusstsein der Fremdheit gehört für alle der Vergangenheit an. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, Album, 25. 8. 2001)