Kunst
Landkarten der Liebe
Ist es noch möglich, weitere Worte über ihn zu verlieren? Ich denke an die bereits
geschriebenen, einschließlich meiner eigenen, und die Antwort lautet: "Nein." Wenn
ich seine Gemälde betrachte, lautet die Antwort - aus einem anderen Grund -
wiederum "Nein"; die Bilder gebieten Schweigen.
Nur wenn ich seine Zeichnungen betrachte, erscheint es mir wert, den Worten etwas
hinzuzufügen. Vielleicht, weil seine Zeichnungen einer Art Schreiben ähneln, häufig hat
er ja auch kleine Zeichnungen auf seine Briefe gemalt. Das ideale Vorgehen wäre,
seinen Prozess des Zeichnens zu zeichnen, sich seine zeichnende Hand zu leihen.
Dennoch möchte ich es mit Worten versuchen.
Vor mir habe ich eine Zeichnung, angefertigt im Juli 1888, eine Landschaft um die
Abteiruine Montmajour bei Arles, und ich glaube, ich sehe die Antwort auf die Frage:
Warum ist dieser Mann zum beliebtesten Maler der Welt geworden?
Der Mythos, das so genannte Märtyrertum, die leuchtenden Farben, das alles spielt
gewiss eine Rolle und hat den weltweiten Anklang seines Werks erhöht, und doch ist
das nicht der Ursprung. Er wird geliebt, weil der Akt des Zeichnens oder Malens für ihn
eine Art war, zu entdecken und anschaulich zu machen, warum er das, worauf er
blickte, so intensiv geliebt hat. Und weil das, worauf er während der acht Jahre seines
Malerlebens (ja, nur acht) blickte, zum Alltagsleben gehörte.
Mir fällt kein anderer europäischer Maler ein, dessen Werk einen derartigen Respekt
vor den alltäglichen Dingen ausdrückt, ohne sie in irgendeiner Weise zu erhöhen,
ohne sie auf ein Ideal, das diese Dinge verkörperten oder bedienten, ohne sie also auf
eine Erlösung verweisen zu lassen. Chardin, de la Tour, Courbet, Monet, Nicolas de
Staël, Jasper Johns - um nur einige zu nennen -, sie alle verließen sich gebieterisch
auf eine Bildideologie. Er hingegen ließ, kaum dass er seine erste Berufung als
Priester aufgegeben hatte, alle Ideologie hinter sich. Er wurde entschieden
existenziell, ideologisch nackt. Der Stuhl ist ein Stuhl und kein Thron. Die Stiefel sind
vom Laufen abgetragen. Die Sonnenblumen sind Pflanzen, keine Konstellationen. Der
Postbote trägt Briefe aus. Die Schwertlilien werden sterben. Und aus dieser seiner
Nacktheit, die seine Zeitgenossen als Naivität oder Verrücktheit ansahen, entsprang,
unvermittelt und jederzeit, seine Fähigkeit, das, was er vor sich sah, zu lieben.
Worte, Worte. Wie wird das Gesagte in seiner Arbeitsweise sichtbar? Kehren wir zu
unserer Zeichnung zurück. Eine Tintenzeichnung, ausgeführt mit einer Rohrfeder. Viele
solcher Zeichnungen hat er an einem einzigen Tag gemacht. Manche, wie diese,
unmittelbar nach der Natur, manche auch nach einem seiner Gemälde, das er an die
Wand seines Zimmers gehängt hatte, bis die Farbe trocken war.
Derartige Zeichnungen waren weniger Vorstudien als vielmehr gezeichnete
Hoffnungen; sie zeigten ihm in einer einfacheren Weise , wohin der Akt des Malens ihn
hoffentlich führen konnte. Sie waren die Landkarten seiner Liebe.
Was sehen wir? Thymian, Sträucher, Kalksteinfelsen, Olivenbäume an einem
Berghang, in der Ferne eine Ebene, am Himmel Vögel. Die Bewegungen kommen
aus seiner Hand, aus dem Handgelenk, dem Arm, der Schulter, vielleicht sogar den
Halsmuskeln. Doch seine Striche folgen Energieströmen, die körperlich nicht die
seinen sind und die nur sichtbar werden, indem er sie zeichnet. Energieströme? Die
Energie eines wachsenden Baums, einer das Licht suchenden Pflanze, des Strebens
eines Astes nach gütlicher Einigung mit seinen Nachbarästen, der Wurzeln von
Disteln und Sträuchern; die Energie des Gewichts von Steinen, die an einem Hang
lagern, des Sonnenlichts, der Anziehungskraft des Schattens auf alles, was lebt und
unter der Hitze leidet, des Mistrals aus dem Norden, der die Gesteinsschichten
geformt hat. Meine Liste ist willkürlich, nicht willkürlich ist hingegen das Muster, das
seine Striche auf dem Papier machen. Das Muster ist wie ein Fingerabdruck.
Zwei Jahre später, drei Monate vor seinem Tod, malte er ein kleines Bild von zwei
Bauern, die ein Feld umgraben. Er malte nach dem Gedächtnis, denn es verweist auf
die Bauern, die er fünf Jahre zuvor in Holland gemalt hatte, und auf die Hommage, die
er sein ganzes Leben lang immer wieder Millet erwiesen hat. Es ist aber auch ein
Gemälde, dessen Thema jene Verschmelzung ist, die wir in der Zeichnung finden. Die
beiden grabenden Männer sind in denselben Farben - Kartoffelbraun, Spatengrau und
das ausgebleichte Blau französischer Arbeitskleider - ausgeführt wie das Feld, der
Himmel und die Berge in der Ferne. Die Pinselstriche, die ihre Glieder beschreiben,
sind identisch mit denen, die den Senken und Hügeln des Feldes folgen.
Das Gemälde erklärt diese Männer natürlich nicht abfällig zu den primitiven Bauern,
als die sie damals viele bürgerliche Städter sahen. Die Verschmelzung der Figuren
mit der Erde verweist nachdrücklich auf den ständigen Energieaustausch, der die
Landwirtschaft ausmacht und der letztlich erklärt, warum die landwirtschaftliche
Produktion nicht rein ökonomischen Gesetzen unterworfen werden kann. Allerdings
könnte diese Verschmelzung auch auf seine Arbeit als Maler verweisen.
Während seines gesamten kurzen Lebens musste er mit der Gefahr des
Selbstverlusts leben, sein Selbst immer wieder neu aufs Spiel setzen. Diese Wette
scheint in allen seinen Selbstporträts auf. Er betrachtet sich als Fremden oder als
etwas, auf das er zufällig gestoßen ist. Seine Porträts von anderen sind persönlicher,
ihr Brennpunkt liegt näher. Wenn er die Grenzen überschritten und sich völlig verloren
hatte, waren die Folgen katastrophal, wie wir aus der Legende wissen. Das kommt
auch in den Gemälden und Zeichnungen zum Ausdruck, die er in solchen
Augenblicken angefertigt hat. Verschmelzung ist zu Spaltung geworden. Alles hat alles
andere ausgestrichen.
Wenn er - wie meistens - seine Wette gewann, erlaubte ihm seine nur unscharf
konturierte Identität, ganz offen zu sein, sich durchdringen zu lassen von dem, was er
betrachtete. Oder vielleicht gerade umgekehrt? Vielleicht gestattete ihm der Mangel an
Konturen, sich herzugeben, aus sich herauszugehen und das Andere zu betreten und
zu durchdringen. Vielleicht gab es auch beide Prozesse - wie in der Liebe eben.
Worte. Worte. Kehren wir zu der Zeichnung mit den Olivenbäumen zurück. Die
Abteiruine liegt, glaube ich, hinter uns. Es ist ein unheimlicher Ort - jedenfalls wäre er
es, wenn er nicht in Ruinen läge. Die Sonne, der Mistral, Eidechsen, Zikaden,
gelegentlich ein Wiedehopf säubern noch immer ihre Wände (sie wurde während der
Französischen Revolution niedergerissen), verdecken noch immer die banalen
Zeichen ihrer einstigen Macht und beharren auf dem Unmittelbaren.
Während der Maler mit dem Rücken zum Kloster sitzt und auf die Bäume blickt, scheint
der Olivenhain die Lücke zu schließen und sich an ihn heranzudrängen. Er erkennt die
Empfindung - er hat sie oft gehabt, drinnen, draußen, in der Borinage, in Paris oder
hier in der Provence. Auf dieses Drängen antwortete er mit unglaublicher
Geschwindigkeit und äußerster Aufmerksamkeit. Alles, was sein Auge sieht, betastet
er. Und das Licht fällt auf die Striche auf dem Velinpapier genauso wie auf die Kiesel
zu seinen Füßen - auf einen von ihnen (auf dem Papier) wird er dann "Vincent"
schreiben.
Sieht man die Zeichnung heute, scheint darin etwas enthalten, was ich Dankbarkeit
nennen muss. Ist es die Dankbarkeit des Ortes, seine eigene oder unsere?
John Berger ist britischer Schriftsteller und Kunstkritiker. Er lebt in Südostfrankreich.
Im Herbst erscheint sein Gedichtband "Wegzeichnungen" im Münchner Hanser Verlag.
(Von John Berger - DER STANDARD, Print-Ausgabe, Album, 25. 8. 2001)